Leseproben:

Aus der Einleitung

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Dennoch - die Kirche ist daran so unschuldig nicht, arbeitet sie doch nun schon seit fast zweitausend Jahren hartnäckig und verbissen daran, den jüdischen Kafarnaumer Bauhandwerker Jesus aus seiner damaligen Lebenswelt herauszusezieren und ihn als göttlichen Erlöser und Begründer des Christentums zu stilisieren.
Dazu darf der Gott Jesus nicht auf dem Wege der normalen geschlechtlichen Erzeugung entstanden sein, sondern Gott Vater hat dafür die jungfräuliche Maria aus Kafarnaum als Niederkunftsort seines göttlichen Sohnes ausersehen.
Dazu darf der Gott Jesus (wenn seine "Mutter" ihr Leben lang Jungfrau geblieben war) keine echten biologischen verwandtschaftlichen Beziehungen zu leiblichen Geschwistern haben, sodass die Kirche bis heute bestreitet, Gott Jesus habe (leibliche) Schwestern und Brüder gehabt - obwohl es ausdrücklich z. B. im "Markus"-Evangelium steht (Mk6,3 und 3,21): "Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Leben nicht seine Schwestern hier unter uns?" Und bis heute fühlt sich die Kirche bemüßigt, das abzustreiten, z. B. auf die Weise, dass sie die gerade zitierte Textstelle bei der entsprechenden Stelle bei "Matthäus" (Mt12,47) wie folgt kommentiert (DHS, NT, S. 19): "'Brüder Jesu' sind nach sonstigem biblischen Sprachgebrauch [...] Familienangehörige im weiteren Sinn, also Vettern oder sonstige Verwandte."
Dazu darf der Gott Jesus nicht Schüler, Anhänger und Jünger im engen Jüngerkreis eines Menschen gewesen sein, selbst wenn dieser in der Bevölkerung als Prophet galt: In Schriften des "Neuen Testaments" wird Jesus mitunter als Nazoräer bezeichnet. Der Evangelist "Markus" macht daraus "Nazarener" (Mk1,9) und lässt so Jesus ein Einwohner des Dorfes Nazaret in Galiläa sein. Warum tut er das? Na, eben weil er damit vertuschen möchte, dass der Gott Jesus Anhänger und Jünger von Johannes dem Täufer war, denn "Nazoräer" (Bewahrer) nannte man die Anhänger und Jünger Johannes' des Täufers "wegen dieser Bedeutsamkeit seiner Taufe" (Stegemann, S. 303), denn sie sollte diejenigen, die sich bußfertig von Johannes im Jordan taufen ließen, davor bewahren, im nahe bevorstehenden Endgericht Gottes von diesem verworfen zu werden.
Bereits der Evangelist, der das "Matthäus"-Evangelium schrieb, hat diese Mogelei des "Markus" nicht nur mitgemacht, sondern sogar noch wider besseres Wissen bekräftigt (Mt2,23): "[...] und [Josef] ließ sich in einer Stadt [!] namens Nazaret nieder. Denn es sollte sich erfüllen, was durch die Propheten gesagt worden ist: Er [Jesus] wird Nazoräer genannt werden."
Weiterhin tilgten bereits die Evangelisten nach "Markus" alle Hinweise auf charakterliche Mängel des Menschen Jesu (z. B. aufbrausend, unbeherrscht), wie sie noch im "Markus"-Evangelium erkennbar sind, und der Evangelist "Johannes" sowie nachfolgende Christen machten schließlich aus dem historischen Jesus eine sterile geschlechts-, gesichts- und farblose Gottpuppe, die mit dem eigentlichen Jesus kaum noch etwas gemein hat.
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Aus: Die Essener, Johannes der Täufer, Jesus, die Evangelisten und ihr Verhältnis zur eschatologischen Prophetie und Apokalyptik

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Wenn man wirklich verstehen will, was sich in den letzten drei Jahrhunderten vor dem Erlöschen von Judas Staatlichkeit im Jahr 135 n. Chr. in Palästina ereignet hat, dann muss man die Prophetenschriften unter die Lupe nehmen, insbesondere jene, die offenkundig die Lieblingsschriften der Essener, Johannes' des Täufers, Jesu, der Evangelisten und all der anderen eschatologisch Denkenden dieser Zeit gewesen waren.
Die Lieblingsschriften der Essener kennen wir recht genau, wurde doch ihre Bibliothek im 20. Jahrhundert in Höhlen um Qumran entdeckt, geborgen und publiziert. Wir finden unter anderen Schriften Psalmen, eine Engelsliturgie, die offenbar mit dem Henochbuch im Zusammenhang steht, in welchem ein Engelbuch (Verse 1 - 36) enthalten ist, mehrere Textauslegungen (Midraschim) zur Endzeit, Messias-Texte (ebenfalls mit Bezügen zum Henoch-Buch), Kommentare zum Buch Hosea, zum Buch Micha, zum Buch Nahum, zum Buch Zefania und - eine Schriftrolle mit dem gesamten Buch Jesaja (Angaben nach Stegemann, S. 372 - 376). Dies zeigt deutlich die eschatologische Ausrichtung der Essener; diese bezog sich nicht nur auf die Exegese, Auslegung und Kommentierung vorhandener (Bibel-) Texte vor allem mit eschatologischem Gehalt, sondern manifestiert sich auch in der Produktion eigener, häufig eschatologischer Texte.
Bei Johannes dem Täufer können wir seine Lieblingsschriften schlicht aus dem Ort, dem Zeitpunkt und der Art seines Auftretens sowie seiner Verkündigung (soweit sie uns überliefert ist) erschließen. Stegemann schreibt hierzu (S. 300 ff.): Wichtig "für das Verständnis des historischen Täufers [...] ist der Rückgriff auf Jesaja 40,3 in Maleachi 3,1 [...]. [...] Liest man [...] das letzte Kapitel im letzten Buch der biblischen Prophetensammlung [also das letzte Kapitel bei Maleachi], so enthält es von vorn bis hinten fast sämtliche Motive, die für das Auftreten und die Verkündigung des Täufers charakteristisch und prägend gewesen sind. [...] Bereits hier finden sich die Motive des Feuergerichtes und der Umkehr (Mal3,2 - 3.7.19), ja sogar die Grundmotive seiner Bildworte von der Axt an der Baumwurzel und von der Spreu beim Worfeln (3,19a.b). Auch die Distanz des Täufers zum Opferkult im Jerusalemer Tempel hat hier ihre deutliche Entsprechung (Mal3,3 - 4.8-10; vgl. Kapitel 1 - 2). Schließlich haben auch nicht erst die Christen Johannes zum 'Boten des Bundes' gemacht, sondern bereits sein offenkundiger 'Berufungstext' (Mal3,1), der ihm zugleich die Rolle des Elija als des letzten Mahners unmittelbar vor dem 'großen und furchtbaren Tag' des Endgerichts durch Gott selbst aufnötigte (Mal3,23 - 24 [...]).
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Wie schon bei den Essenern und bei Johannes stoßen wir auch bei Jesus auf Jesaja oder genauer Deuterojesaja. Dabei ist der Schlüsseltext für das Verstehen dessen, was Jesus tut - seine Provokationen auf dem Tempelberg mit dem Ziel, zum Tode verurteilt und gekreuzigt zu werden -, jene Stelle des Jesajatextes, die sich auf einen "Gottesknecht" bezieht (Jes52,13 - 53,12), der sich stellvertretend für die Sünden von Gottes auserwähltem Volk, für die Sünden seines jüdischen Volkes kreuzigen lässt. Dass Jesus dabei diese Stelle mit ziemlicher Sicherheit falsch interpretiert hat, haben wir oben bereits gesehen: Mit dem leidenden Gottesknecht ist wohl am wahrscheinlichsten Israel bzw. sein nach Babylon deportierter Teil gemeint.
Jesu Verkündigung, dass das Reich Gottes angebrochen sei, geht auf seinen Meister Johannes zurück, der das Kommen Gottes und seines Reiches als unmittelbar bevorstehend angekündigt hatte. Nachdem ihn sein Landesherr Herodes Antipas in den Kerker geworfen hatte, war es für seinen Jünger Jesus zwingend logisch, dass nun das von Johannes angekündigte Reich Gottes angebrochen sein musste. Dass Gott (noch) nicht kam, führte Jesus darauf zurück, dass die Schriftstelle Jes52,13 - 53,12 ("Gottesknecht") noch nicht erfüllt sei und folglich Gottes Kommen verhindere. Er, Jesus, übernahm es nun, dieser Gottesknecht zu sein, sich für die Sünden seines Volkes kreuzigen zu lassen und damit (so glaubte er) das Kommen Gottes auszulösen.
Die Ablehnung des Opferkultes am Jerusalemer Tempel teilt Jesus nicht nur mit seinem Meister Johannes sowie den Essenern, sondern auch noch mit einer Vielzahl von Propheten (Mk12,32/3; Mt9,13): "Liebe will ich, nicht Schlachtopfer, Gotteserkenntnis statt Brandopfer!" (Hosea 6,6) "Wenn ihr mir Brandopfer darbringt, ich habe kein Gefallen an euren Gaben, und eure fetten Heilsopfer will ich nicht sehen." (Amos 5,22) "Was soll ich mit euren vielen Schlachtopfern?, spricht der Herr. Die Widder, die ihr als Opfer verbrennt, und das Fett eurer Rinder habe ich satt; das Blut der Stiere, der Lämmer und Böcke ist mir zuwider. Wenn ihr kommt, um mein Angesicht zu schauen - wer hat von euch verlangt, dass ihr meine Vorhöfe zertrampelt? Bringt mir nicht länger sinnlose Gaben, Rauchopfer, die mir ein Gräuel sind. [...] Wenn ihr auch noch so viel betet, ich höre es nicht. Eure Hände sind voller Blut. Wascht euch, reinigt euch! Lasst ab von eurem üblen Treiben! Hört auf, vor meinen Augen Böses zu tun! Lernt, Gutes zu tun! Sorgt für das Recht! Helft den Unterdrückten! Verschafft den Waisen Recht, tretet ein für die Witwen!" (Jes1,10 - 17) - Nebenbei: Diese Jasaja-Stelle bildet wohl auch die Handlungsanweisung für Jesu Tempelreinigung (Mk11,15 - 17) und seine Rede wider die Schriftgelehrten (Mk12,38 - 40). Selbst Jesu letzten Worte am Kreuz sind ein Zitat: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen [...]?" (Ps22,2)
Was den Zeitpunkt von Jesu Auftreten anbetrifft, so richtet er sich - wie sein Meister Johannes - nach den Berechnungen und Vorhersagen der Essener.
Jesu Vertrautheit mit der Angelologie bzw. Dämonologie der Essener, wie sie im "Markus"-Evangelium erkennbar ist (z. B. Mk9,29 oder 1,13), verweist zunächst ebenfalls auf die Essener, die eine ausgeprägte Angelologie entwickelt hatten, diese aber aus dem Henochbuch bezogen, wobei offen bleiben muss, ob sich die Essener auf das bereits vorhandene Henochbuch stützten oder ob sie als Endredaktoren dieses Buches ihre Ansichten dort hineinlegten. Jedenfalls kann der Bezug Jesu auf das Henochbuch als sicher gelten: Mit keinem anderen Wort wird Jesus in den Evangelien häufiger verbunden als mit dem Begriff Menschensohn. [...] Die Evangelisten stützten sich - wie Jesus - auf das Henochbuch, wenn sie in Jesus ein ewiges Engelswesen sahen, das schon vor der Welt war. [...] Auch im Buch Daniel taucht einmal (sieht man von der Überschrift ab) der Begriff des Menschensohnes auf (7,13/4):
"Da kam mit den Wolken des Himmels einer wie ein Menschensohn. Er gelangte bis zu dem Hochbetagten und wurde vor ihn geführt. 14 Ihm wurden Herrschaft, Würde und Königtum gegeben. Alle Völker, Nationen und Sprachen dienten ihm. Seine Herrschaft ist eine ewige, unvergängliche Herrschaft. Sein Reich geht niemals unter." Wir finden hier also eine Gleichsetzung der Gestalt des Messias mit jener des Menschensohns.
Wie sehr die Essener, Johannes der Täufer mit seinen Nazoräern, Jesus und die Evangelisten von den Büchern der Propheten und den Apokalypsen (Offenbarungen), wie unter anderen dem Henochbuch oder dem Buch Daniel, geprägt waren, zeigen eine Reihe von Bezügen in den Evangelien, besonders jene Stelle:
"Da wandte sich der Hohepriester nochmals an ihn [Jesus] und fragte: Bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobten? Jesus sagte: Ich bin es. Und ihr werdet den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und mit den Wolken des Himmels kommen sehen." (Mk61/2) Untersucht man, wie oft sich Jesus dort, wo er bei "Markus" redet, auf eschatologische Propheten bezieht und auf welche er sich bezieht, so ergibt sich folgender Befund (wobei die Apokalypse (Mk13,5 - 37) wohl eher nicht von Jesus stammt und deshalb hier ausgeklammert wird): Die meisten Bezüge zielen auf die Thora; nahezu stereotyp antwortet Jesus auf Fragen von Pharisäern oder Schriftgelehrten: Was sagt Moses dazu? Circa elfmal bezieht er sich auf Psalmen, achtmal auf Jesaja, dreimal auf Jeremia, zweimal auf Daniel und jeweils einmal auf Joel, Ezechiel, Maleachi, Ijob und Sacharja. Wir finden also - wie bei den Essenern - Jesaja neben den Psalmen in einer Favoritenrolle.
Wie wir schon bei den Essenern und Johannes dem Täufer sehen konnten, bezieht auch Jesus sein Weltbild und die Motive seines Handelns - neben der Thora - vollständig aus dem eschatologischen Schrifttum bzw. aus Schriften, die eschatologisch interpretiert wurden, wobei neben den Psalmen Jesaja, Daniel und Henoch in einer Favoritenrolle sind.
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