Leseproben:
Aus: Albrecht Dürer: Melencolia I (Melancholie)
Im Jahr 1514, dem Todesjahr seiner Mutter, schafft Dürer einen Kupferstich, den er mit "Melencolia I" betitelt, also "Melancholie".
Es ist ein komponiertes Ideenbild voller Symbolik. Wir befinden uns auf einer mittelalterlichen Baustelle und die sitzende, kräftige, ja,
maskuline Frauengestalt mit großen Flügeln, die fast die gesamte rechte Hälfte des Bildes einnimmt, ist nicht nur die Personifizierung der
Melancholie, sondern verkörpert zugleich einen Baumeister. Zu seinen Füßen liegen typische Werkzeuge einer damaligen Baustelle, u. a.
Streichmaß, Säge, Hobel, Richtscheit und Zange. Gegen die Rückseite des Gebäudes hinter der Melancholie, dem Baumeister, lehnt eine
Leiter und weist auf die Unfertigkeit des Gebäudes, auf die Baustelle hin.
Der Baumeister auf dem Bild gehört derselben Berufsgruppe an, zu der auch Dürer selbst zählt, zur Gruppe der Künstler, der Schaffenden,
der Schöpferischen, - und in einer "Schrift des Marsilio Ficino, 'Vom gesunden Leben'" (Winzinger, S. 98), die Dürer kannte, heißt
es: "'Alle Männer, so in einer großen Kunst vortrefflich sind gewesen, die sind alle melancholici gewesen.'" (Winzinger, S. 98)
Und so trägt der Baumeister bezeichnenderweise einen saturnischen Blätterkranz auf seinem Haupt, nach Agrippa das "Emblem [...] des Gottes
der Melancholie" (Böhme, S. 18); auf Saturn verweist auch "die Fledermaus als traditionelles Emblem der düsteren und negativen Aspekte
der Melancholie" (Böhme, S.20), die oben links den Bildtitel zwischen ihren gespreizten Flügeln aufspannt. [...]
Aus: Georg Trakl: In den Nachmittag geflüstert
[...] Aber auch diese guten und wahrhaften Kreaturen Gottes sind nicht
mehr da,
"Sind verweht im Blätterfall",
haben sich in ihre Hütten zurückgezogen und das lyrische Ich bleibt einsam zurück. Auch in diesem Vers die Verbindung mit dem Sterben:
"Blätterfall"; stark auch: "verweht" - nicht mehr auffindbar, spurlos - hoffnungslos.
So sind in der zweiten Strophe alle Ansprechpartner des Einsamen - Ansprechpartner, weil liebesfähig - verschwunden: Tier und Pflanze,
stumme, sanfte, verstehende Kreaturen Gottes, die einfachen, hart arbeitenden Landleute. Zurück bleibt der Einsame inmitten des Sterbens.2
"Stirne Gottes Farben träumt"
In einer Biografie über Trakl heißt es:3
"Der Psychiater Spoerri stellt fest, dass Trakl im Laufe der Jahre 'immer passiver und ausgelieferter den Narkotika' verfallen sei. [...]
Die Betäubungen dauerten mitunter tagelang an, auch fand man ihn schlafend in winterlicher Kälte. Aufschluss über Wein und Drogen gibt
häufig die Dichtung. In der 'Träumerei am Abend' [S. 167] lesen wir: 'Dem einsam Sinnenden löst weißer Mohn die Glieder, / Dass er
Gerechtes schaut und Gottes tiefe Freude.'" [...]
Aus: Analyse und Interpretation von Ernst Reuters Rede vom 9.9.1948 vor dem Berliner Reichstagsgebäude
"Völker der Welt [...]! Schaut auf diese Stadt [...]!" - Es gibt kaum einen
Berliner, der diesen Satz nicht kennen würde, und die meisten wissen auch, dass er von dem Berliner Bürgermeister Ernst Reuter ausgerufen
wurde. Aber wer weiß heute noch, warum die "Völker der Welt" an diesem 9. September 1948 vor dem zerschossenen Berliner Reichstagsgebäude
aufgefordert wurden, auf Berlin zu schauen?
Tatsächlich, den Bewohnern Westberlins saß damals die Angst im Nacken: Berlin war von den vier alliierten Siegermächten besetzt - Westberlin
von den demokratischen "westlichen" Mächten Großbritannien, Frankreich und den USA, Ostberlin von den sowjetischen Streitkräften des
kommunistischen Diktators Stalin. Und der Kalte Krieg zwischen den ehemaligen Alliierten hatte längst begonnen. Die West-Alliierten
führten in Westdeutschland und Westberlin die D-Mark ein und nahmen damit die Spaltung Deutschlands in Kauf, die Sowjets antworteten mit
der Blockade Westberlins: Sie sperrten alle Land- und Wasserwege zwischen Westberlin und Westdeutschland. Trotzig begannen die
West-Alliierten Westberlin über eine Luftbrücke mit allen notwendigen Gütern zu versorgen - aber diese Luftbrücke war teuer und nicht
wenige in den USA, in Großbritannien und Frankreich sahen nicht ein, wieso man täglich Unsummen ausgab, um die Westberliner zu versorgen,
wo man doch selbst noch unter den Folgen des Krieges zu leiden hatte und dieses Geld selbst bitter nötig hatte. Warum sollte man
dieses politische und finanzielle Sorgenkind Westberlin nicht im Tausch gegen andere Gebiete oder Zugeständnisse den Sowjets überlassen?
Und genau das war es, wovor sich die Berliner und ihr Bürgermeister Ernst Reuter fürchteten: in die Hände der Kommunisten zu fallen.
Ernst Reuter kannte sie, hatte er doch selbst 1917 aktiv an der Oktoberrevolution in Russland teilgenommen. [...]
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