Leseprobe:

Hinführung

In meiner Jugend, als ich einige Jahre eine Jugendgruppe leitete, war es dort zum Brauch geworden, dass ich an jedem Gruppenabend eine Gespenstergeschichte zu erzählen hatte. Eine Kerze wurde entzündet, das Deckenlicht ausgeschaltet und um mich herum saßen die Jungen und warteten gespannt und voller Ungeduld auf meine Geschichte. Diese habe ich in Ermangelung eines Gespensterbuches selbst erfunden. Oft genug fragte nach dem Ende der Geschichte einer der Umsitzenden: "Ist das wirklich passiert?", und manchmal, wenn ich das Gefühl hatte, dem Fragenden täte es leid, wenn es eine erfundene Geschichte wäre, ließ ich mich dazu hinreißen, diese Frage zu bejahen. Danach herrschte noch eine Weile andächtiges Schweigen und ich hatte Mühe, das erneute Anschalten der Deckenlampe durchzusetzen.
Mir war damals nicht klar, dass wir damit eine Art Ritual vollzogen, das so alt war, wie die Menschheit selbst: Das Weitergeben von Geschichten der Alten an die Jungen - abends beim flackernden Schein des Feuers. Und wie oft wird es geschehen sein, dass der Erzählende - vielleicht um die Spannung zu steigern, vielleicht um dem Nachbarstamm eins auszuwischen, vielleicht um sein Ansehen in der Gemeinschaft zu steigern - seine Geschichte, die vielleicht von einem wahren Kern ausging, ausschmückte, Geschehnisse hinzudichtete, Unglaubliches, Wunderbares hinzufügte - mit einem Satz - seiner Fantasie die Zügel schießen ließ. Und auch damals hat sich so mancher Alte wohl dazu hinreißen lassen, die Frage der Jungen, ob diese Geschichte wirklich passiert sei, wahrheitswidrig zu bejahen.
Was blieb den Kindern und Jugendlichen, die von den Alten - sozusagen ihren Gewährsleuten - solche Geschichten erzählt bekamen, anderes übrig, als diese für bare Münze zu nehmen, diese als Teil ihrer Glaubenswelt zu verinnerlichen und als wahre Geschichten an die nachfolgende Generation weiterzugeben?
Hinzu kommt, dass die frühen Menschen den Naturgewalten viel elementarer ausgeliefert waren als wir heute. Unzählige Naturerscheinungen, die ihr Leben existenziell bedrohten, konnten sie sich nicht erklären - Stürme, Gewitter, nicht enden wollende Regenfälle, Überschwemmungen, Vulkanausbrüche, Sonnenfinsternisse, Heuschreckenplagen, Dürren und vieles andere mehr verstanden sie nicht, aber die Jungen fragten sie nach den Ursachen. Und welcher Alte will da schon dumm dastehen? Zu diesen Naturerscheinungen wurden Geschichten erfunden: Übernatürliche, Götter, steuerten das sonst Unerklärliche - mit einem Wort: Mythen entstanden, wurde tradiert und geglaubt.
Seien wir ehrlich: Welchem Menschen von allen, die bisher diese Erde bevölkert haben, ist jemals tatsächlich ein Gott über den Weg gelaufen, sodass er sagen könnte: Ich habe Gott gesehen, habe Auge in Auge mit ihm einen Schwatz gehalten? Ja, ja, natürlich, unzähligen ist das bisher passiert, die Zahl der Geschichten über solche Begegnungen, die uns in der einen oder anderen Weise überliefert sind, ist Legion und Legion ist auch die Zahl der Dummköpfe, die das glauben. Aber - Hand aufs Herz: Ist Ihnen das selbst einmal passiert?
Tatsache ist doch wohl, dass übernatürliche Wesen - Götter eingeschlossen - allemal Produkte des menschlichen Geistes, der menschlichen Fantasie sind. Und kaum hat der Mensch sie kreiert, hat er hübsche Geschichten um sie herum zusammengesponnen und den Jungen im Brustton der Überzeugung weitergegeben - schon glauben diese Dösbaddel an die reale Existenz ihrer Kopfgeburten, fürchten sie, opfern ihnen, beten zu ihnen.
Sogleich treten Gurus auf, die sich als Mittler zwischen diesen Göttern und den gläubigen Menschen ausgeben, die als Priester für die Gläubigen Rituale zelebrieren, behauptend, sie könnten mit diesen die Stimmung der Götter beeinflussen: sie besänftigen, sie gnädig stimmen, sie dazu bringen, dem bittenden Gläubigen dessen Bitte zu erfüllen. Und in fest gefügten Glaubensgemeinschaften lebt ein solcher Schamane, Guru, Priester, Imam, oder wie sie auch immer heißen mögen, nicht schlecht von den Scherflein, Opfergaben und Kirchensteuern der Gläubigen. Mit solch einem Job lässt sich meist locker der Lebensunterhalt bestreiten; dazu kommt, dass ein Priesteramt in der Regel mit einem hohen Ansehen in der Gemeinschaft der Gläubigen verbunden ist. Und so war es auch im alten Israel.

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