Leseprobe:

[...] Wie rasch Grimmelshausen nach der "Fürstenpredigt" auf Neues zusteuert, wird unter anderem an Folgendem deutlich: 1. Bereits eineinhalb Kapitel nach der "Fürstenpredigt" erfolgt Simplicius' Entfernung vom Hanauer Hof durch die Kroaten. 2. Grimmelshausen lässt Simplicius noch schnell Laute lernen. Diese Fähigkeit braucht er später noch, um a) bei dem Obrister in Magdeburg als Hofjunker eingestellt zu werden und b) ihn später bei Dr. Canard unterkommen zu lassen.

5.2.2.6 Beschluss des "Fürstenpredigt"-Teils - Thesen

1. Grimmelshausen konstruiert den bisherigen Roman von der "Fürstenpredigt" her; sie ist der zentrale Punkt, diese Predigt wollte Grimmelshausen loswerden, ihr dient die bisherige Handlung.
2. Demnach können wir Grimmelshausens Technik wie folgt rekonstruieren:
a) Grimmelshausen wollte in der "Fürstenpredigt" die vernünftige Ordnung Gottes der widervernünftigen feudalen Ordnung gegenüberstellen.
b) Dazu brauchte er eine Person, die als Träger dieser vernünftigen Ordnung Gottes (des "Hl. Willens Gottes") diese Gegenüberstellung vornimmt.
3. Daraus ergeben sich notwendig folgende Konsequenzen:
a) Der Ort dieser Gegenüberstellung konnte nur ein feudaler Hof als Repräsentant der widervernünftigen, sprich: widergöttlichen (feudalen) Ordnung sein.
b) Jene Person musste diese vernünftige Ordnung, jenen Maßstab, den sie dann anlegt, rein erhalten.
4. Für die Romangestaltung ergeben sich daraus wiederum zwingende Konsequenzen:
a) Grimmelshausen musste es seiner Person ermöglichen, diese Predigt an dem Hof halten zu können. Dazu ist die Narrengestalt Simplicius' eine adäquate Form. Um ihn aber zum Narren werden lassen zu können, muss Grimmelshausen seine Person zunächst einmal am Hof haben. Dazu verknüpft er den Einsiedler verwandtschaftlich mit dem Gouverneur und führt den Brief und den Pfarrer zur Vermittlung ein.
b) Damit seine Person den "Hl. Willen Gottes" in reiner Form bekommen konnte, musste er (entsprechend seiner Anschauung von der Bildungsfähigkeit des Menschen ("wächserne Tafel")) seine Person fernab von den Einflüssen jener widervernünftigen Ordnung der "Welt" aufwachsen lassen. Zur Vermittlung jenes Maßstabs ist der Einsiedler das geeignete Mittel. Auf diese Weise erschließt sich uns von der "Fürstenpredigt" aus die ganze bisherige Struktur des Romans:

1. Maßstab bekommen
2. Maßstab anlegen
3. Konsequenzen aus dem Ergebnis des Anlegens ziehen

5.2.3 Der Magdeburger Teil

Das kaiserliche Lager vor Magdeburg ist der nächste Lebenskreis von Simplicius. Diesen Teil, den wir "Magdeburger Teil" nennen wollen, werden wir später noch problematisieren müssen. Dies ist der Ort, an dem Grimmelshausen seinen Simplicius zunächst haben will, und zielstrebig arbeitet er darauf hin: Das Kroatenkapitel (II,15) braucht er, um Simplicius aus Hanau verschwinden zu lassen, das Schnapphahnenkapitel (II,16), um Simplicius zu dem Geld kommen zu lassen, das er später für Herzbruder braucht, das Hexenkapitel (II,17), um Simplicius nach Magdeburg zu bringen. Auf das "Hexenkapitel" müssen wir kurz eingehen. Dem Leser des "Simplicissimus" wird sicherlich die Parallelität auffallen, die zwischen dem Exkurs-Kapitel über die Wirkung von Pulver auf das Gedächtnis (II,8) und dem Exkurs-Kapitel über die Möglichkeit von Hexenfahrten (II,18) besteht. Hier können wir eine Folge von Grimmelshausens schneller Arbeitsweise, deren Gründe wir oben erörtert haben, sehr gut studieren: Um dem Leser die nachfolgende "Fürstenpredigt" als von Simplicius gehalten irgendwie glaubhaft zu machen, musste Grimmelshausen das Pulver einführen. Um dem Pulver selbst wieder seine Unglaubwürdigkeit zu nehmen, bemüht sich Grimmelshausen, aus dem Garzonus Stellen hervorzusammeln, die gedächtniskräftigende Wirkungen von Pulvern usw. belegen. Indem er Simplicius mittels einer Hexenfahrt nach Magdeburg kommen lässt, arbeitet er genauso wie mit dem Pulver. Da es Grimmelshausen zu lange dauert, den Weg dorthin romanhaft zu gestalten, und wohl auch wegen der Gefahr, dass seine Aussageabsicht im Episodengestrüpp völlig untergeht, lässt er Simplicius mittels einer Hexenfahrt dorthin gelangen. Nach dem "Beleg"-Kapitel (II,18) sagt er ganz unverblümt (S. 157):

"[...] wers nicht glauben will, der mag einen andern Weg ersinnen [...]."

"Ich muss meinen Simplicius in Magdeburg weiteragieren lassen und das schnell, und da bediene ich mich kurzerhand des Kniffs mit dem Hexenflug." Grimmelshausen geht es also hier nicht darum, die Hexengeschichte um ihrer selbst willen als wahr zu erweisen, als vielmehr darum, die Romanhandlung damit abzukürzen. [...]

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