Leseprobe:

Aus: Die Zeit der 68er Bewegung

Es begann in den USA

Seltsam: Da hatte man 1945 einen Krieg gewonnen gegen böse, verbrecherische Regime, hatte der Demokratie zum Sieg verholfen, aber die junge Generation dankte es der alten nicht: Die Jungen waren aufmüpfig und machten Schwierigkeiten und bald war in den USA von einem Generationenkonflikt die Rede. Grund war, dass die alte US-amerikanische Gesellschaft genug Probleme hatte, sie aber bisher erfolgreich unter den Teppich kehren konnte. Jetzt, nach dem Zweiten Weltkrieg, wollten die Jungen diese Heuchelei und Verlogenheit der Alten nicht mehr mittragen.
Da war der Leistungsgedanke: Nur wenn du im Leben Erfolg hast, kannst du ein glückliches Leben haben; um Erfolg zu haben, musst du Leistung bringen, musst du schuften. Und die Jungen sahen, dass die Alten schufteten (s. "Tod eines Handlungsreisenden" von Arthur Miller), aber am Ende nicht nur nicht glücklich, sondern die Scheidungsanwälte in den USA mit die gefragtesten Leute waren. Hier stimmte etwas nicht. Und warum sollte man schuften bis zum Umfallen, wenn am Ende dann doch die Familie in die Brüche ging und wenn am Ende von dem erhofften glücklichen Leben nichts übrig blieb als Streit und Hass, Bitterkeit und Alkoholsucht? Junge Menschen wollten "etwas" vom Leben haben, Spaß, Abenteuer und Genuss - das Leben sollte Freude machen. Und so lehnten junge Menschen - radikal wie junge Menschen nun einmal sind - sehr bald die ganze überkommene Gesellschaft mit ihren Normen und Konventionen, ihren Werten und Überzeugungen, ihren Lebensformen und Idealen ab. Es wurde alles infrage gestellt:
Was ist von einem Bildungssystem zu halten, das uns zu funktionierenden Arbeitsrobotern erziehen soll?
Was ist von der Institution "Ehe" zu halten, wenn in ihr die Menschen nur unglücklich werden?
Was ist von einem politischen System zu halten, das die Afroamerikaner im Land diskriminiert, Andersdenkende (Kommunisten) verteufelt und stets nur wieder neue Kriege mit all ihrem Leid und Elend gebiert?
Sollten wir nicht versuchen, neue Wege zum Glücklichwerden zu beschreiten? Lieben ohne Ehe, freie Sexualität (? "Why Don't We Do It In The Road", Beatles), keine "Erziehung", sondern freies Entfaltenlassen des Kindes und Jugendlichen ("antiautoritäre Erziehung"), eine repressionsfreie, antiautoritäre Gesellschaft schaffen?
Dann kam der Vietnamkrieg. Schleichend, unmerklich fast rutschten die USA hinein; waren es zunächst nur Militärberater, die die südvietnamesische Armee in ihrem Kampf gegen das Vordringen des Kommunismus aus dem Norden auf Vordermann bringen sollten, gingen bald amerikanische Kampfverbände in Vietnam an Land. Glaubte die Jugend am Anfang noch an die gute Sache ihres Kampfes in Vietnam, wurden bald die Lügen entlarvt (Tongking-Zwischenfall), die Gräueltaten (My Lai) bekannt und die verbrecherische Kriegsführung ihrer Präsidenten (wir bomben Vietnam in die Steinzeit zurück) offensichtlich und die jungen Amerikaner begriffen: Wir sind die Bösen, wir tragen die Verantwortung für zigtausendfachen Mord in einem kleinen Agrarland im fernen Asien. Und nun hatten die USA wirklich Probleme: Martin Luther King forderte die Gleichberechtigung für die Afroamerikaner in den USA und scharte 10 Prozent und mehr der amerikanischen Gesellschaft hinter sich; die Jugend rebellierte offen, Einberufungsbescheide der US-Army wurden in aller Öffentlichkeit auf der Straße verbrannt, Teile der Jugend wandten sich völlig von der Gesellschaft ab und schufen Gegenkulturen (Kommunen, Drogen, freie Liebe, absolute Friedfertigkeit usw.).
Und der Funke sprang über auf Europa, auch auf die Bundesrepublik.

Es sprang über auf die Bundesrepublik

Zunächst begann es mit Protesten und Demonstrationen des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund, Hochschulverband der SPD bis 1961) und SHB (Sozialdemokratischer Hochschulbund, Abspaltung des SDS) an der Freien Universität in Westberlin gegen die autoritären, undemokratischen Strukturen an der Universität. [...]

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