Quo vadis, Israel?

Von Wolfgang Martin

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Inhalt

Kanaan 2
Die Israeliten 2
Kanaan - viele Völker, viele Religionen 3
Die israelitischen Mythen 4
Das alte Israel und das alte Juda - zwei ungleiche Brüder 5
Die musitischen Leviten von Silo und die aaronitische Priesterschaft am Jerusalemer Tempel 5
"Du sollst neben mir keine anderen Götter haben." 8
Die schlechten und die guten Könige 9
Die israelitischen Mythen geben Anlass zu Gehässigkeiten 10
Die ersten Massaker an Juden 12
Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus 13

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14. Mai 1948: Israel ersteht neu 13
Der Zionismus 14
Der Islam - eine neue Religion in alter Region 14
Mohameds Antijudaismus 16
Allein der Glaube - macht Massenmörder! 16
Palästinenser, Juden und Briten 17
Die jüdische Einwanderung 18
Palästina - kein Paradies 19
Die Staatsgründung Israels - eine staatsmännische Meisterleistung 20
Der Teilungsplan: Die UN-Resolution 181 II 22
Krieg 22
Der erste arabisch-israelische Krieg 25
Der Waffenstillstand vom 7. Januar 1949 27
Israel behauptet sich 27
Der Sechs-Tage-Krieg von 1967 - Eretz Israel wird Wirklichkeit 28
Jitzchak Rabin und die Zwei-Staaten-Lösung 28
Wenn keine Zwei-Staaten-Lösung - was dann? Realitäten in Israel 29
Wie könnte eine realistische Lösung des Nahost-Konflikts überhaupt aussehen? 32
Die Ein-Staaten-Lösung und die aktuelle Situation 33
Scheitert die Zwei-Staaten-Regelung? 34
Gedanken zum Ausklang 35
Anmerkungen 37

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Kanaan

Die Bevölkerung in Palästina beziehungsweise in Kanaan, wie die Region Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. genannt wurde, war von alters her recht heterogen. Nach dem Bibeltext (Gen10,15 ff.) lebten im Lande Kanaan Jebusiter, Amoriter, Girgaschiter, Hiwiter und weitere Völkerschaften. Im Gefolge des kriegerischen Einfalls von "Seevölkern" zwischen 1300 und 1150 v. Chr. siedelten sich an der Küste nördlich von Galiläa die Phönizier und im Küstengebiet des heutigen Gaza-Streifens die Philister an, von denen sich die Bezeichnung Palästina ableitet. In deren Siedlungsgebieten hatten sich schon früh Stadtstaaten gebildet, die es durch den Handel in friedlichen Zeiten zu Reichtum und Wohlstand brachten, so zum Beispiel die Küstenstädte Sumur, Byblos, Sidon, Tyrus (Phönikien), Asdod, Askalon und Raphia (Philistäa).
In den Dörfern zwischen der Küste und dem Bergland von Samaria und Juda siedelten sesshafte Ackerbauern, welche die Städte an der Küste mit den nötigen Lebensmitteln versorgten. Das Bergland war im späten 2. Jahrtausend v. Chr. nur dünn besiedelt und wenig erschlossen; ausgedehnte Wälder beherrschten noch die Berglandschaft. Im Übergangsbereich des östlichen Berglandes zu den Steppen des Jordangrabens und Transjordaniens herrschte Halbnomadismus vor. Und mit diesen in Stammesverbänden organisierten Halbnomaden sind wir bei jener Bevölkerungsgruppe, die sich allmählich als Israeliten verstehen.

Die Israeliten

Der Zusammenbruch des Wirtschaftsgefüges des Raumes Kanaan, ausgelöst durch die kriegerischen Überfälle von Seevölkern im 12. Jahrhundert v. Chr., löste eine Kolonisationswelle im Bergland aus: "In den zuvor dünn besiedelten Gebieten des Judäischen Berglands im Süden bis zum Bergland von Samaria im Norden, weitab von den kanaanischen Städten, die kurz vor ihrem Zusammenbruch und ihrer Auflösung standen, entstanden unvermittelt zweihundertfünfzig Gemeinden auf Bergspitzen. Hier lebten die ersten Israeliten."1
"[...] in der israelitischen Frühzeit hat jede Sippe (und wohl auch jeder Stamm) einen jeweils eigenen Gott verehrt"2. "Die Formeln der Genesis weisen also lediglich auf einen namenlosen oder nicht mit Namen genannten Sippengott hin, den die Mitglieder der Sippe auf Grund des Entschlusses eines Vorfahren verehren [...]:" "Ich bete zu Assur, dem Gott deines Vaters" (...) "(Gen31,5.29; 43,23; 49,25; 50,17)". "In anderen Formeln werden die Namen der Väter genannt [...]: der Gott Abrahams (Gen31,53), der Gott deines Vaters Abraham (Gen26,24; 28,13; 32,10) [...]." (Fohrer, S. 22)
Während die nördlichen israelitischen Stämme ihren Gott mit dem Namen El bezeichneten, hieß dieser in Juda Jahwe. "Dabei ist es keineswegs auszuschließen, dass nach der Übernahme als Stammesreligion einzelne Sippen und Familien außerdem weiterhin ihre mit El gleichgesetzten Sippengötter verehrten." (Fohrer, S. 78)
"Das gilt besonders für die in der Genesis verarbeiteten Heiligtums- und Kultlegenden von der Offenbarung des El Roi (Gen16), vom Ersatz des Menschenopfers durch das Tieropfer an einem nicht mehr genannten Heiligtum (Gen22,1 ff.) und von der Entdeckung der heiligen Stätten in Bethel und Penuel am Jabbok (Gen28,10 ff.; 32,25 ff.)." (Fohrer, S. 44) In der Folge kam es zu einer Gleichsetzung des kanaanäischen Gottes El mit dem israelitischen Jahwe. Das lässt sich bis heute an der Endung -el bei vielen israelitischen Eigennamen erkennen: Isra-el, Gabri-el, Micha-el, Nathana-el, Jo-el, Rafa-el, Isma-el, Immanu-el, Ezechi-el, Dani-el usw. usf.
"Gibt es in den Dörfern der Menschen, die das frühe Israel bildeten, [...] etwas, das sie von ihren Nachbarn unterschied? Wie kristallisierten sich ihre ethnische Zugehörigkeit und Nationalität heraus?
Heute demonstrieren die Menschen genau wie in der Vergangenheit ihre ethnische Zugehörigkeit auf viele verschiedene Arten: mit ihrer Sprache, Religion, Kleidung, ihren Bestattungsriten und aufwendigen Speisevorschriften. Die einfache materielle Kultur der Hirten und Bauern im Bergland, die die ersten Israeliten wurden, gibt keinen klaren Hinweis auf ihren Dialekt, ihre religiösen Rituale, Kleidung oder Bestattungsriten. Aber ein sehr interessantes Detail über ihre Speisegewohnheiten wurde entdeckt. Die Knochen, die man bei den Ausgrabungen der kleinen frühen israelitischen Dörfer im Bergland fand, unterschieden sich von denen aus Ortschaften in anderen Landesteilen in einer signifikanten Hinsicht: Es gab keine Schweine." (FuS, S. 135/6)
"Vergleichbare Daten aus den philistäischen Ortschaften an der Küste aus derselben Zeit - Eisenzeit I - weisen eine erstaunlich hohe Zahl von Schweineknochen unter den gefundenen Tierknochen auf. Die frühen Israeliten aßen demnach keine Schweine, die Philister dagegen durchaus, genauso (so gut man anhand spärlicher Daten beurteilen kann) wie auch die Ammoniter und Moabiter östlich des Jordans. [...] Fünfhundert Jahre bevor der biblische Text mit seinen detaillierten Speisevorschriften entstand, beschlossen die Israeliten [...], kein Schweinefleisch mehr zu essen" (FuS, S. 136), was angesichts ihrer (halb-) nomadischen Lebensweise kaum verwundert. Im Vergleich zu Ziegen und Schafen können Schweine keine Pflanzen mit hohem Zellulosegehalt verdauen, also kein Gras, welches die Hauptnahrung für das Kleinvieh dieser Nomaden darstellte. Man müsste die Schweine mit Feldfrüchten füttern, womit sie aber zu Nahrungskonkurrenten der Menschen würden. Nicht nur, dass Schweine keine Milch geben, sie sind auch nicht in der Lage sich abzukühlen, da sie keine Schweißdrüsen besitzen, und erleiden daher ohne Schatten sehr leicht einen Hitzschlag. Hausschweine können zudem ohne Schatten auch einen Sonnenbrand bekommen. Das alles macht sie für eine nomadische Lebensweise ausgesprochen ungeeignet. War es also zunächst einfach nur eine Gegebenheit, dass die Ackerbauern in den Dörfern Schweineherden besaßen, die Israeliten dagegen nicht, wurde diese Tatsache im Laufe der weiteren kulturellen Entwicklung zu einem bewussten ethnischen Abgrenzungsmerkmal mit religiöser Begründung.
"In Kanaan konnte eine große Zahl von Hirtennomaden besonders in der Spätbronzezeit im Bergland und am Wüstenrand nur existieren, wenn die kanaanäischen Stadtstaaten und Dörfer einen ausreichenden Getreideüberschuss für den Handel produzierten. Das war während der dreihundert Jahre langen ägyptischen Herrschaft über Kanaan der Fall. Als dieses politische System jedoch im 12. Jahrhundert v. Chr. zusammenbrach, funktionierte auch sein Wirtschaftsnetz nicht mehr. Man darf daher annehmen, dass sich die Dorfbewohner in Kanaan auf die Produktion für den Eigenbedarf konzentrieren mussten und keine bedeutenden Getreideüberschüsse über das hinaus erwirtschafteten, was sie selbst brauchten. Deshalb mussten sich die Hirten im Bergland und am Wüstenrand den neuen Bedingungen anpassen und ihr eigenes Getreide anbauen. Schon bald führten die Anforderungen des Ackerbaus dazu, dass der Umfang der saisonalen Wanderungen zurückging. Weil die Dauer der Wanderungen schrumpfte, wurden die Herden verkleinert, und da zusehends mehr Mühe in die Landwirtschaft investiert wurde, erfolgte eine dauerhafte Verlagerung zur Sesshaftigkeit." (FuS, S. 134/5)

Kanaan - viele Völker, viele Religionen

"Da [nun nach der Sesshaftwerdung der Israeliten] nicht mehr die personelle Zugehörigkeit zu Sippe oder Stamm, sondern die Niederlassung in einer Ortschaft oder einem Territorium bzw. Gau maßgeblich wurde, war die Aufnahme von Angehörigen anderer Stämme und von Kanaanäern möglich, wie umgekehrt Israeliten sich in kanaanäischen Städten niederließen." (Fohrer, S. 49) Das bedeutete natürlich auch, dass insbesondere die kanaanäische Religion, ihre Götter und ihre Kulte, Einfluss auf die Stammesgötterreligion und die israelitische Jahwereligion gewannen. Über einer Vielzahl von Göttern und Göttinnen dominierten vor allen der Gott El sowie der Gott Baal. Mythen und Legenden der Kanaanäer wurden von den Israeliten übernommen, umgeformt und an ihre (Stammes-) Götter angepasst. Es darf auch nicht übersehen werden, dass zu dieser Zeit "Israel [...] seinen Gott Jahwe anderen Göttern als ebenso wirklichen Mächten gegenüber stehen [sah]. Diesen Göttern wurde volle Existenz zugestanden; wie Jahwe der Gott Israels war, so galten sie nach selbstverständlicher und unbestrittener Anschauung als die Herren der anderen Völker (vgl. Jdc11,21 ff.; I Sam26,19)." (Fohrer, S. 93)

Die israelitischen Mythen

Man muss sich also klarmachen, dass die Israeliten eine Völkerschaft unter anderen Völkerschaften war und dass ihre Religion eine Religion unter anderen Religionen war. Kanaan war eine Vielvölkerregion mit einer bunten Vielfalt von Religionen, Göttern, religiösen Praktiken und Anschauungen, wobei die frühen Israeliten sicherlich die "Hillbillys", also die Hinterwäldler der Region waren. Vielleicht ist das der Grund, warum sie in ihren Mythen zur Angeberei neigten: Nicht alle Städte Kanaans hatten sich von den Einfällen der Seevölker und deren Zerstörungen erholen können und von jenen, die wieder auf die Beine gekommen waren, wurden bei einem Kriegszug des Pharaos Schischak Ende des 10. Jahrhunderts v. Chr. nicht wenige ein weiteres Mal zerstört. Diese Ruinen- und Trümmerstädte seien, so die Israeliten, ihr Werk gewesen, sie hätten all diese Städte zerstört und deren Bewohner niedergemacht; so hätten sie sich das Land, Kanaan, genommen - auf Geheiß ihres Gottes. Mann, was waren diese Israeliten für Kerle, was für ein mächtiger Gott ist an ihrer Seite! - Das ist der Eindruck, den die Israeliten mit solchen Geschichten erwecken wollten. Und wie sie den Ägyptern entkamen: Unglaublich! Welche Kerle! Welch ein Gott! Die Israeliten schwelgten in ihren literarischen Produkten in Machtfantasien auf Kosten der anderen Völkerschaften, die Kanaan bevölkerten: Ihr Gott Jahwe habe sie unter allen anderen Völker erwählt, die Israeliten zu seinem Lieblingsvolk gemacht; sie sollten dermaleinst die Vorherrschaft über alle anderen Völker erhalten, ihnen schenkte er Kanaan, nicht den anderen darin lebenden Völkerschaften.
Diese israelitischen Mythen interessierten die anderen kanaanäischen Bewohner nicht, solange diese in deren eigener Bevölkerung kursierten, wenn dann aber die Konsequenzen aus deren übergriffiger Sichtweise in handfesten politischen Taten, wie zum Beispiel Eroberung, Unterwerfung und Vertreibung (s. dazu beispielsweise Numeri 33,50 - 56), zutage traten, machten sich die Israeliten bei ihren Nachbarn unbeliebt, extrem unbeliebt.
Wer waren die Schöpfer dieser Mythen, wer waren jene, die diese schriftlich fixierten, sie tradierten - sie in ihrem Sinne bearbeiteten? Diese Aufgabe - oder sollte man eher sagen: dieses Vorrecht? - hatte die Priesterschaft. Die Priester waren die Bewahrer der Mythen und der Überlieferung der Geschichte des Volkes. Und wer das Recht hat, geschichtliche Geschehnisse aufzuschreiben, der hatte letztlich die Macht, sie in seinem eigenen Sinne zu gestalten. Wie schrieb Haffner? "Nicht alles, was je geschehen ist, wird Geschichte, sondern nur das, was Geschichtsschreiber irgendwo und irgendwann einmal der Erzählung für wert erachten. Erst Geschichtsschreibung schafft Geschichte."3 Und in Orwells Dystopie "1984" heißt es: "Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit" und "Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft".4 Die israelitische Priesterschaft wendete diese Lehren bereits im 8./7. vorchristlichen Jahrhundert gekonnt an: Sie modellierte einen Gott Jahwe, dem sie alles in den Mund legte, was ihren eigennützigen Interessen dienlich war.
Nun muss man wissen, dass die Thora das Ergebnis der Rivalität zweier Priestergruppen darstellt, der musitischen Priesterschaft des Nordstaates Israel und der aaronitischen Priesterschaft des Südstaates Juda.

Das alte Israel und das alte Juda - zwei ungleiche Brüder

Über die beiden hebräischen Königreiche Israel und Juda schreiben die beiden Archäologen Israel Finkelstein und Neil A. Silberman in ihrem Buch "Keine Posaunen vor Jericho": "Es besteht kein Zweifel daran, dass die beiden Staaten der Eisenzeit - Israel und Juda - viele Gemeinsamkeiten besaßen. Beide verehrten JHWH (neben anderen Göttern). Ihre Völker hatten viele gemeinsame Sagen, Helden und Geschichten über eine gemeinsame, weit zurückliegende Vergangenheit. Auch sprachen sie ähnliche Sprachen oder Dialekte des Hebräischen und seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. verwendeten sie auch dieselbe Schrift. Aber sie unterschieden sich in ihrer demografischen Zusammensetzung, ihrem Wirtschaftspotenzial, ihrer materiellen Kultur und den Beziehungen zu ihren Nachbarn stark voneinander. Kurz: Israel und Juda machten eine recht unterschiedliche Geschichte durch und entwickelten verschiedene Kulturen. In gewisser Hinsicht war Juda wenig mehr als Israels ländliches Hinterland." (FuS, S. 178)
"Sichem und Jerusalem, Israel und Juda, waren stets verschiedene, miteinander konkurrierende Gebiete. Und es gab gute Gründe dafür: Die Umweltbedingungen im Norden und im Süden unterschieden sich dramatisch voneinander." (FuS, S. 173/5)
"Dass sich im kanaanäischen Bergland zwei verschiedene Gemeinwesen herausbildeten, war durchaus natürlich. Es gibt keinerlei archäologische Beweise dafür, dass die Trennung von Norden und Süden aus einer früheren politischen Einheit erwachsen wäre - erst recht keiner mit einem Zentrum im Süden." (FuS, S. 176)
"Noch überzeugender wurde die Hypothese, dass die Omriden und nicht Salomo die erste voll entwickelte Monarchie in Israel gründeten, als man die Befunde von anderen großen Städten im Nordreich Israel mit einem unvoreingenommenen Blick betrachtete." (FuS, S. 207)
"Die Neudatierung dieser Städte von der salomonischen Zeit in die Zeit der Omriden hat für die Archäologie wie für die Geschichte gewaltige Auswirkungen. Damit werden die einzigen archäologischen Beweise zunichte gemacht, die es je für eine vereinte Monarchie mit einem Zentrum in Jerusalem gegeben hat. Sie erlaubt den Schluss, dass David und Salomo aus politischer Sicht kaum mehr als Stammesoberhäupter mit einer ziemlich kleinen, lokal beschränkten Verwaltung im Bergland waren." (FuS, S. 209)

Die musitischen Leviten von Silo und die aaronitische Priesterschaft am Jerusalemer Tempel

Das heißt nicht nur, dass die Darstellung der Bibel falsch ist, sondern auch, dass es sich bei dem eisenzeitlichen Brüderpaar Israel und Juda um recht unterschiedliche Brüder handelte und dass ihr Verhältnis von Konkurrenz und - was Juda betrifft - durchaus auch von Neid und Missgunst geprägt war.
Das wird besonders im Bereich der Religion deutlich. Während in Israel El bzw. Elohim als Gott verehrt wurde, hieß derselbe Gott in Juda Jahwe. Aber in beiden Königreichen vermittelten Priester den Kontakt zwischen den bittenden Gläubigen und ihrem Gott. Die Priester zelebrierten für die Gläubigen Rituale, brachten Gott die Opfertiere der Gläubigen dar und lebten nicht schlecht von diesen Opfergaben und Scherflein der Gläubigen. Priester zu sein verlieh Macht, Einfluss, Einnahmen und Wohlstand. Priester wurde man nicht aufgrund einer Wahl durch die Gläubigen, nicht durch eine Ausbildung, die man mit einer Prüfung abschloss, oder Ähnlichem - Priester war man, wenn man in ein Priestergeschlecht hineingeboren wurde. Das Priesteramt war mit bestimmten Priesterfamilien verbunden und daher erblich. Dazu gab es in Israel und Juda bestimmte Orte - sozusagen spirituelle Zentren -, wo unterschiedliche Priestergeschlechter der Gottheit die Opfergaben der bittenden Gläubigen darbrachten, etwa so wie Wallfahrtsorte. Solche Orte waren beispielsweise Silo, Bethel (Beth-El), Sichem und Jerusalem mit seinem Tempel.
"Es hatte in Israel und Juda [...] mehrere unterschiedliche Priesterkreise gegeben. In Jerusalem amtierte eine Priesterschaft, deren Angehörige als Nachkommen Aarons galten. In Beth-El amtierten Priester, die von König Jerobeam ernannt worden waren. Außerdem gab es die [musitischen] Leviten des nördlichen Königreiches, die in Silo amtiert hatten [und sich direkt auf Moses zurückführten]. Es gab die ländlichen Leviten, den Ortsklerus, der während der längsten Zeit der Geschichte Israels und Judas auf den verschiedenen Höhen [kleinere örtliche Heiligtümer] amtierte."5 Von all diesen Priestergruppen waren die zwei bedeutendsten Gruppen die aaronitische Priesterschaft am Jerusalemer Tempel, dem zentralen Heiligtum des Südstaates Juda, und die musitischen Leviten in Silo, einem zentralen Heiligtum des Nordstaates Israel. Die israelischen Leviten aus Silo hatten eine (Ur-) Thora geschrieben (E-Autor), welche den heutigen ersten vier Büchern Moses entspricht, und die aaronitische Priesterschaft hatte eine (Ur-) Thora geschrieben (J-Autor). Diese beiden Fassungen konkurrierten miteinander, solange es den Nordstaat Israel gab. Man "beharkte" sich darin gegenseitig. Die musitisch-levitische Fassung versuchte der aaronitischen Priesterschaft ans Bein zu pinkeln, die aaronitische Fassung versuchte den Leviten aus Silo ans Bein zu pinkeln. Hier einige wenige Beispiele dazu:
"Wie kam Israel zu Sichem [einer Stadt und einem wichtigen Heiligtum in Israel]? Durch Kauf, berichtet der E-Autor; durch ein Blutbad, so der J-Autor." (Friedman, S. 80)
"Über Juda sagt er [der J-Text] dagegen:
Juda, du bist's; dich werden deine Brüder loben …
vor dir werden deines Vaters Kinder sich neigen.
Laut J erhält also Juda das Erstgeburtsrecht.
Und wie steht es bei E? [...] Ephraim wird größer werden." (Friedman, S. 82)
"Die Wortwahl in E scheint auf eine Beschimpfung von Juda und seiner Königsfamilie zu zielen." (Friedman, S. 84)
"Wie wir wissen, wurde die Bundeslade als der zentrale Gegenstand von Salomos Tempel in Jerusalem angesehen. Daher überrascht es nicht, dass sie in J einen so hohen Stellenwert einnimmt, in E wird sie aber überhaupt nicht erwähnt.
E misst dagegen der Stiftshütte als Symbol der Gegenwart Gottes unter seinem Volk große Bedeutung bei. Die Stiftshütte war den Büchern Samuel, Könige und Chronik zufolge die wichtigste Anbetungsstätte des Volkes, bis Salomo das Altarzelt durch den Tempel ersetzte. Zum anderen war die Stiftshütte ursprünglich mit der Stadt Silo verbunden. Berücksichtigt man die anderen Beweise für eine Verbindung zwischen dem Autor von E und der Priesterschaft von Silo, kann es also kaum überraschen, dass die Stiftshütte bei E eine so große Bedeutung besitzt, bei J aber überhaupt nicht erwähnt wird." (Friedman, S. 96) "Es kommt in der Erzählung jedoch klar zum Ausdruck, dass Aaron gesündigt hat, dass Gott über Aaron erzürnt ist (Vers 9) und dass Moses Gotteserfahrung über der von Aaron steht. Das entspricht ebenfalls dem Interesse von E, die aaronitische Priesterschaft in Juda herabzusetzen. Sowohl hier als auch in der Erzählung vom Goldenen Kalb nennt Aaron Mose respektvoll ‚mein Herr' und erkennt damit Moses Überlegenheit an." (Friedman, S. 100)
Nun muss man wissen, dass die Leviten von Silo in ihren Augen ungerecht behandelt worden waren: Einmal: Der Priester Abjatar, auf den sich die Leviten von Silo zurückführen, gehörte nach 2Sam 8,17; 2Sam 20,25 und 1Chr 18,16 während der Königsherrschaft Davids in Jerusalem zu Davids wichtigsten Beamten. Neben dem aaronitischen Priester Zadok bekleidete der musitische Abjatar das Amt des Oberpriesters am Jerusalemer Tempel. Bei den Auseinandersetzungen um den Nachfolger Davids auf dem Königsthron ergriff Abjatar jedoch Partei für Salomos Halbbruder Adonija gegen Salomo, stand also damit - aus historischer Perspektive - auf der falschen Seite. Salomo machte der Verschwörung ein Ende, schenkte aber Abjatar wegen seiner Treue zu Salomos Vater David als Einzigem das Leben. Abjatar geht jedoch seines Hohenpriesteramtes verlustig und muss Jerusalem verlassen; er wird auf seinen Familienbesitz nach Anatot verbannt.6
Zum zweiten: Jerobeam I., König des Nordreiches Israel (931 - 909 v. Chr.), "erbaute die Heiligtümer von Bet-El und Dan und ließ dort goldene Kälber aufstellen (1 Kön 12,29 EU)"7. Dies sollte wohl zum einen den Pilger-Tourismus ankurbeln und damit die lokale Wirtschaft stärken und Geld in die Staatskasse spülen, zum anderen versprach sich Jerobeam dadurch eine Aufwertung seines Königreiches. Die rechtmäßige Priesterschaft dieses Nordstaates Israel, die Leviten von Silo, erwarteten nun, dass Jerobeam sie zu Priestern dieser neuen Heiligtümer ernennen würde. Jerobeam setzte dort jedoch Leute als Priester ein, die keine Leviten waren, was die Leviten von Silo zutiefst kränkte.
Ein Widerschein dieser ganzen Vorgänge findet sich in der (Ur-) Thorafassung des E-Autors vom Nordreich Israel:
"Warum lässt der Autor [E] Mose die Tafeln mit den zehn Geboten zerschmettern [Ex 32,19]? Möglicherweise, weil damit Zweifel an Judas zentralem Heiligtum geweckt wurden. Der Tempel in Juda beherbergte die Bundeslade, in der sich die beiden Tafeln mit den Zehn Geboten befinden sollten. Nach der E-Erzählung vom goldenen Kalb zerschmettert Mose die Tafeln. Das heißt, dass der Quelle E zufolge die Bundeslade dort unten im Süden, im Tempel von Jerusalem, entweder nicht die authentischen oder überhaupt keine Tafeln enthält. Mit der Geschichte vom goldenen Kalb [Ex 32,1 - 6] griff der Autor von E sowohl das israelitische als auch das judäische religiöse Establishment an. Beide hatten seine Gruppe [die Leviten] ausgeschlossen. Man könnte die Frage stellen, warum dann dieser Autor in anderen Erzählungen Jerobeams Königreich in so günstigem Licht darstellte. Warum begünstigte er die Städte Sichem, Peniel und ganz besonders Beth-El? Warum bevorzugte er den Stamm Ephraim? Erstens, weil Silo in Ephraim lag und weil dessen großer Priester Samuel aus Ephraim stammte. Und zweitens, weil das Königreich Israel politisch wahrscheinlich die letzte Hoffnung des Autors darstellte. Er konnte auf den Tag hoffen, an dem die unrechtmäßigen, nicht-levitischen Priester in Beth-El verworfen und die Seinen, die Leviten, wieder installiert würden. Juda und Jerusalem boten zu jener Zeit keine solche Hoffnung. Die Priester aus Aarons Familie waren dort seit Salomos Zeiten fest etabliert. Sie waren Leviten und damit nicht weniger legitim als die Priester von Silo. Durch Politik und Heirat waren sie der königlichen Familie eng verbunden. Die einzige realistische Hoffnung lag für die Priester von Silo im nördlichen Königreich. Die Quelle E begünstigte daher die politische Struktur dieses Königreiches, während sie gleichzeitig sein religiöses Establishment angriff." (Friedman, S. 94/5)
Wie oben bereits angedeutet, gab es in Kanaan eine Vielzahl von Heiligtümern der unterschiedlichsten Art nicht nur für den israelitischen Gott Jahwe, sondern daneben noch für eine Vielzahl anderer Göttinnen und Götter; diese Heiligtümer waren in der Regel Höhenheiligtümer, also Heiligtümer, die auf Erhebungen oder in Bergsätteln lagen. Ihre Ausstattung reichte von einfachen Opferplätzen unter freiem Himmel bis zu religiösen Zentren mit Tempeln und ausgedehnten Anlagen. Neben den Kulten der Familien, die zu Hause ihre persönlichen Götter und Ahnen verehrten, gab es eine Vielzahl von kleineren, einfachen Höhenheiligtümern, die Bestandteil des normalen örtlichen Lebens eines Dorfes waren; größere und aufwändigere Höhenheiligtümer mit regionaler Ausstrahlung lagen in der Nähe von Städten und waren auf diese bezogen. Schließlich gab es große, überregionale Staatsheiligtümer wie beispielsweise Sichem, Beth-El, Dan oder den Tempel in Jerusalem, für deren Kult der König verantwortlich war. "Hier sorgte er in Verantwortung gegenüber den Staatsgöttern für die gemäße kultische Verehrung und sichert so das Wohl seines Landes."8 "Auf den Höhen feierte man jahreszeitliche Feste wie Erntedank und brachte Schlachtopfer dar."9 Die lokalen Heiligtümer wurden, ebenso wie diejenigen kleinerer Städte, anlassbezogen, also sporadisch, genutzt, während die überregionalen Heiligtümer einen permanenten Opferbetrieb boten.
Jedem Heiligtum war ein Priester bzw. eine Priesterschaft zugeordnet, wobei der Erwerb ihres Lebensunterhaltes genau festgelegt war: So erhielten beispielsweise die Priester am Jerusalemer Tempel, die für die Gläubigen die Opferrituale am Altar vollzogen, in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends v. Chr. von den Gläubigen einen bestimmten Anteil an den Opfergaben: "[...] als ständige Abgabe die sogenannten 'Erstlinge' der Bodenfrüchte - Getreide, Wein, Feigen, Honig, Oliven, Granatäpfel - und das 'Beste' der Feldfrüchte; dies dürfte etwa 2 % der Ernte ausgemacht haben. Hinzu kam jede männliche Erstgeburt, die in Geld abgelöst wurde. Die Priester erhielten weiterhin einen Teil der bei der Schafschur gewonnenen Wolle, einen Anteil vom Brotteig - von Privatpersonen wie von Bäckern -, Anteile von profanen Schlachttieren [die also nicht als Opfertiere geschlachtet wurden], während ihnen die Sühne- und Schuldopfer ganz gehörten. Die Schaubrote [im Tempel] standen ihnen zu, der größte Teil der Getreideopfer und von den Brandopfern die Felle. Die Naturalien konnten verkauft werden; hinzu kam, dass die Priester Befreiung von einigen wichtigen Steuern erhalten hatten."10

"Du sollst neben mir keine anderen Götter haben."

Die Verhältnisse waren aber für die Priester im achten und siebten Jahrhundert v. Chr. noch längst nicht so lukrativ wie später. Bei den vielen Heiligtümern im ganzen Land - nicht nur für Jahwe, sondern auch für Baal, Aschera, Yam, Aschtar und wie sie alle hießen - kam zum Beispiel der Priester eines kleinen Ortsheiligtums kaum auf einen grünen Zweig und durch die Fülle an Heiligtümern verdienten alle Priester nach ihrem Dafürhalten zu wenig. Es war so, als wenn es in einer heutigen Einkaufszone auf 800 Meter vier Einkaufszentren geben würde: Kein Einkaufszentrum könnte schwarze Zahlen schreiben. Verschwänden drei davon, würde das übrigbleibende gute Geschäfte machen. Was also war zu tun? Sowohl die Leviten im Nordreich Israel als auch die Tempelpriesterschaft am Jerusalemer Tempel drängten ihre Könige, die vielen Heiligtümer im Land zu schließen und nur noch ein zentrales Heiligtum bestehen zu lassen (an dem sie natürlich die Priester waren!). Das aber musste man schlüssig begründen, denn welcher Herrscher verdirbt es sich schon mit einem Großteil seiner Untertanen, indem er ihre Heiligtümer zerstört und sie zwingt, zur Opferung viele Kilometer zu dem zentralen Heiligtum zu pilgern, dort für teueres Geld ein Opfertier zu erstehen, um es dort opfern zu lassen?
Die Lösung: Gott/Jahwe verlangt es so (welcher Herrscher würde es wagen, Gott zu widersprechen?!). Also legten die Herren über das Wort, die Priester, Jahwe (der ohnehin letztlich ihre Schöpfung war) all das in den Mund, was die Priester von ihren Herrschern forderten: Zentralisierung des religiösen Kultus an einem Ort, Zerstörung aller anderen Heiligtümer im Land; und so lässt man Jahwe sagen: "Du sollst neben mir keine anderen Götter haben." (Ex 20,3), und da das bedeutet, dass man sich mit den nicht-israelischen Völkerschaften Kanaans anlegt, lässt man Jahwe auch gleich fordern, diese mit Mann, Frau, Kind und Maus auszurotten: "Sihon rückte mit seinem ganzen Volk gegen uns aus, um bei Jahaz zu kämpfen. Der HERR, unser Gott, lieferte ihn uns aus. Wir schlugen ihn, seine Söhne und sein ganzes Volk. Damals eroberten wir alle seine Städte. Wir vollzogen an ihrer ganzen Bevölkerung den Bann, auch die Frauen samt Kindern und Alten; keinen ließen wir überleben." (Dtn2,32 - 34)
"Dann wendeten wir uns dem Weg zum Baschan zu und zogen hinauf. Og, der König des Baschan, rückte mit seinem ganzen Volk gegen uns aus, um bei Edreï zu kämpfen. Der HERR sagte zu mir: Fürchte ihn nicht, denn ich gebe ihn, sein ganzes Volk und sein Land in deine Hand. Tu mit ihm, was du mit Sihon getan hast, dem König der Amoriter, der in Heschbon seinen Sitz hatte! Und der HERR, unser Gott, gab auch Og, den König des Baschan, und sein ganzes Volk in unsere Hand. Wir schlugen ihn und ließen keinen überleben. Damals eroberten wir alle seine Städte. Es gab keine befestigte Stadt, die wir ihnen nicht genommen hätten: sechzig Städte, den ganzen Bezirk von Argob, das Königreich des Og im Baschan." (Dtn 3,1 - 4)
Um mehr Einnahmen zu bekommen, um reich zu werden, um mehr Macht und Einfluss zu erhalten, gestalteten die schriftstellernden Kreise der Priesterschaft den Bibeltext zu einer Anleitung zum Massenmord, formten sie ihren Gott Jahwe zu einem brutalen, gnadenlosen Monster (was tut man nicht alles fürs Geld...).

Die schlechten und die guten Könige

Im Buch der Könige (1 und 2) werden die Könige Israels und Judas in zwei Gruppen eingeteilt: Die eine Gruppe sind die Könige, unter denen religiöse Vielfalt, gegenseitige Toleranz und Integration in die "Weltwirtschaft" herrschten - unter vielen dieser Herrscher blühte der Handel, boomte die Wirtschaft, kam es zu regem kulturellen Austausch -, die andere Gruppe sind die Könige, die radikal gegen die Heiligtümer im Land vorgingen und diese zerstörten, welche die Priester kanaanäischer Kultstätten abschlachten ließen und die Priester von Jahwe-Kultstätten zur zentralen Kultstätte des Landes beorderten, wo sie dem Priester-Establishment Hilfsdienste zu leisten hatten. Die erste Gruppe von Königen waren die Bösen, jene, die Jahwe angeblich überhaupt nicht mochte und derentwegen er das Volk züchtigte, die zweite Gruppe der Könige waren die Guten, jene, die angeblich Wohlgefallen bei Jahwe fanden. Dumm nur, dass es dem Land eher unter den Königen schlecht ging, welche Jahwe angeblich gefielen. - Die Wahrheit ist: Unter der ersten Gruppe der Könige ging es den Priestern an den Staatsheiligtümern eher bescheiden (deswegen waren die Könige böse), unter der zweiten Gruppe der Könige ging es den Priestern an der zentralen Kultstätte gut, ihre Einnahmen flossen reichlich, sie lebten im Wohlstand (deswegen waren die Könige gut).
Wie verheerend es sich auswirkte, wenn israelitische Herrscher den priestergesteuerten Anweisungen Jahwes folgten, sei an folgendem Beispiel gezeigt: Im Nordreich Israel ließ man unter der Omriden-Dynastie (881 - 845 v. Chr.) aus politischen Gründen neben der Jahwereligion wieder die alten kanaanäischen Kulte aufleben, vor allem den Baalkult, wogegen sich anwachsend Widerstand der Jahwe-Anhänger entwickelte. "Die Gegner der Omriden schlugen los, als [König] Joram 842 das mittlerweile in den Besitz der Aramäer übergegangene Ramath in Gilead belagerte und sich dabei eine Verwundung zuzog. Während er sich auf dem Landgut der Familie in Jesreel erholte, ließ sich der Kommandant der vor Ramath liegenden Truppen, Jehu, zum König proklamieren." (Clauss, S. 48) Die restlichen Mitglieder der Omriden-Dynastie wurden ermordet, und "im 'Eifer für Jahwe' ließ er [Jehu] wahllos Priester und Gläubige [des Baalkultes] niedermachen" (Clauss, S. 49). Dies stieß die Kanaanäer, die etwa 50 Prozent der Bevölkerung ausmachten, dermaßen vor den Kopf, dass sie jede weitere Zusammenarbeit im Staat verweigerten (s. Clauss, S. 50), was ausgerechnet jetzt, wo die Assyrer sich anschickten, ihr Reich nach Westen auszudehnen, zu einer strategischen Schwächung Israels führte. Israel wird dann auch in der Folge von den Assyrern vereinnahmt, die israelische Oberschicht deportiert. "Auf dem ehemaligen Gebiet Israels wurden Bauern aus Babylon, dem nordsyrischen Hamath sowie Araber angesiedelt [...]. [...] Damit endete das Königreich Israel." (Clauss, S. 56/7)
Assyrien reagierte, wie nicht anders zu erwarten: Noch kurz vor seinem Tod nahm der Nachfolger von Tiglatpilesar III., Salmanassar V. (727 - 722), die Kapitulation Samarias entgegen und sein Nachfolger Sargon II. beendete als Strafaktion die Staatlichkeit Israels. Und so kam es denn auch in der weiteren Geschichte des alten Israel immer dann, wenn die israelitischen Herrscher unabhängig agieren konnten und sich die Gebiete benachbarter Nationen einverleibten, aus religiösen Motiven heraus zu furchtbaren Metzeleien, wie wir oben bereits gesehen haben. Richtschnur: Psalm 79,6: "Gieße deinen Zorn aus über die Völker, die dich nicht erkennen, und über die Königreiche, die deinen Namen nicht anrufen!" oder Jesaja 63,6: "Da zerstampfte ich Völker in meinem Zorn, / machte sie trunken in meiner Wut / und ließ ihren Saft zur Erde rinnen." Auch bei prophetischen Visionen über eine messianische Endzeit konnten sich die meisten Propheten die außerjüdischen Völker der Erde nur als von Jahwe Besiegte und Unterworfene vorstellen; Beispiel: Jesaja (24,21 - 25,12) erwartete die Entmachtung der Feinde Jahwes unter Zerstörung ihrer Hauptstädte für die (noch lebenden) Völker und "an jenem Tag fordert der HERR Rechenschaft in der Höhe / vom Heer in der Höhe / und auf dem Erdboden von den Königen des Erdbodens. Sie werden gefesselt in einer Grube zusammengetrieben, / eingeschlossen in einem Kerker / und nach vielen Tagen wird er sie strafen." (Jes24,21/2) oder Sacharja 14,12: "Dies aber wird der Schlag sein, mit dem der HERR alle Völker schlägt, die gegen Jerusalem in den Krieg gezogen sind: Er lässt das Fleisch eines jeden verfaulen, noch während er auf seinen Füßen steht; und die Augen verfaulen ihm in ihren Augenhöhlen und die Zunge verfault ihm in seinem Mund." Oder im Deuteronomium lässt der Priester Jeremia Mose sagen (Dtn7,1 - 5): "Wenn der HERR, dein Gott, dich in das Land geführt hat, in das du jetzt hineinziehst, um es in Besitz zu nehmen, wenn er dir viele Völker aus dem Weg räumt - Hetiter, Girgaschiter und Amoriter, Kanaaniter und Perisiter, Hiwiter und Jebusiter, sieben Völker, die zahlreicher und mächtiger sind als du -, wenn der HERR, dein Gott, sie dir ausliefert und du sie schlägst, dann sollst du an ihnen den Bann vollziehen. Du sollst keinen Vertrag mit ihnen schließen, sie nicht verschonen und dich nicht mit ihnen verschwägern. Deine Tochter gib nicht seinem Sohn und nimm seine Tochter nicht für deinen Sohn! Wenn er dein Kind verleitet, mir nicht mehr nachzufolgen, und sie dann anderen Göttern dienen, wird der Zorn des HERRN gegen euch entbrennen und wird dich unverzüglich vernichten. So sollt ihr gegen sie vorgehen: Ihr sollt ihre Altäre niederreißen, ihre Steinmale zerschlagen, ihre Kultpfähle umhauen und ihre Götterbilder im Feuer verbrennen."
Jeremia lässt Mose sagen (Dtn12,5 - 6): "[...] ihr sollt nach der Stätte fragen, die der HERR, euer Gott, aus allen euren Stammesgebieten erwählen wird, indem er dort seinen Namen anbringt. Nach seiner Wohnung sollt ihr fragen und dorthin sollst du ziehen. Dorthin sollt ihr eure Brandopfertiere und Schlachtopfertiere bringen, eure Zehnten und das Hebeopfer eurer Hand, was ihr dem HERRN gelobt habt und was ihr freiwillig gebt, und die Erstlinge eurer Rinder, Schafe und Ziegen. Dort sollt ihr vor dem HERRN, eurem Gott, das Mahl halten." Gemeint ist Jerusalem. Es soll im Land nur eine einzige zentrale Anbetungs- und Opferungsstelle geben, den Tempel in Jerusalem. "So besagt beispielsweise das erste Gebot im Gesetzeswerk des Deuteronomiums, dass Gott nur an einem einzigen Ort Opfer dargebracht werden sollen. Und eben das hat Josia getan. Er ließ alle Kultstätten außerhalb des Tempels zerstören. Das aber sicherte den ganzen Einfluss und die gesamten Einnahmen aus der Religion der Jerusalemer Tempel-Priesterschaft, und es war ein Jerusalemer Tempelpriester, der das Buch fand." (Friedman, S. 133) Die Leviten, die an den zerstörten anderen Heiligtümern des Landes tätig gewesen waren, wurden allesamt nach Jerusalem an den Tempel beordert, wo sie fortan für die aaronitische Priesterschaft Hilfsdienste zu leisten hatten.

Die israelitischen Mythen geben Anlass zu Gehässigkeiten

Den Tempelpriestern am Jerusalemer Tempel galten die Israeliten als auserwähltes Volk Gottes. "In dem Bund, den Jahwe mit Abraham schließt, verspricht er, dass Abrahams Nachkommen das Land 'von dem Wasser Ägyptens an bis an das ... Wasser Euphrats' besitzen sollen. Das entspricht den Grenzen des Landes unter König David, dem Begründer der Königsfamilie Judas." (Friedman, S. 79) In der Genesis (17,1 ff.) liest sich das so: "Als Abram neunundneunzig Jahre alt war, erschien der HERR dem Abram und sprach zu ihm: [...] Ich will meinen Bund stiften zwischen mir und dir und ich werde dich über alle Maßen mehren. [...] Siehe, das ist mein Bund mit dir: Du wirst Stammvater einer Menge von Völkern. Man wird dich nicht mehr Abram nennen. Abraham, Vater der Menge, wird dein Name sein; denn zum Stammvater einer Menge von Völkern habe ich dich bestimmt. Ich mache dich über alle Maßen fruchtbar und lasse dich zu Völkern werden; Könige werden von dir abstammen. Ich richte meinen Bund auf zwischen mir und dir und mit deinen Nachkommen nach dir, Generation um Generation, einen ewigen Bund: Für dich und deine Nachkommen nach dir werde ich Gott sein. Dir und deinen Nachkommen nach dir gebe ich das Land, in dem du als Fremder weilst, das ganze Land Kanaan zum ewigen Besitz und ich werde für sie Gott sein. Und Gott sprach zu Abraham: Du aber sollst meinen Bund bewahren, du und deine Nachkommen nach dir, Generation um Generation. Dies ist mein Bund zwischen mir und euch und deinen Nachkommen nach dir, den ihr bewahren sollt: Alles, was männlich ist, muss bei euch beschnitten werden. Am Fleisch eurer Vorhaut müsst ihr euch beschneiden lassen. Das soll geschehen zum Zeichen des Bundes zwischen mir und euch. [...] So soll mein Bund, dessen Zeichen ihr an eurem Fleisch tragt, ein ewiger Bund sein." Diese Sichtweise der Israeliten, sie seien das auserwählte Volk Gottes, sprach sich natürlich auch bei den Nachbarvölkern herum. Und da deren Götter für die Israeliten nicht wirklich existent waren, stand das auserwählte Volk logischerweise viel höher als die Völker um sie herum.
Diese Ansicht bewirkte in Städten, in denen die Juden lediglich einen Anteil an einer ansonsten gemischten Bevölkerung (sowohl in ethnischer wie in religiöser Hinsicht) ausmachten, böses Blut. - Die Juden vermieden den Kontakt mit den anderen? Sie waren arrogant und hochnäsig. Die Juden heirateten lediglich untereinander? Sie hielten sich wohl für etwas Besseres. Die Juden sahen ihre Religion als die einzig wahre Religion? Sie waren eingebildet, intolerant und beleidigten die religiösen Gefühle ihrer Nachbarn. Die Juden hielten ihr Volk für höher stehend als die anderen Völker? Sie galten den Nachbarn als (wenn es diese Begriffe damals schon gegeben hätte) Nationalisten, religiöse Rassisten und Chauvinisten.
Und das ist die historische Schuld, welche die Jerusalemer Tempelpriesterschaft, welche u. a. Esra mit ihrer Theologie auf sich geladen haben: Diese Theologie, welche die Jerusalemer Tempelpriesterschaft aus egoistischen Gründen geschaffen hat, um ihre Pfründe zu sichern, um ihre Macht und ihr Ansehen zu steigern, isolierte das jüdische Volk von den anderen Völkerschaften und machte es dadurch extrem angreifbar.
Bezeichnend dafür sind beispielsweise die Vorgänge um den Neubau des Jerusalemer Tempels nach der Rückkehr einer ersten Gruppe von Israeliten aus dem Babylonischen Exil. "Im ersten Jahr seiner Herrschaft gibt Kyros, der Begründer des Persischen Reichs, einen Erlass für die Wiederherstellung Judas und des Tempels heraus". (FuS, S. 319)
Nach der Grundsteinlegung für einen neuen Tempel im Jahr 535 v. Chr. unter dem von Kyros ernannten Statthalter Serubbabel passierte dann aber zunächst einmal nicht sehr viel. Wohl wird es bereits einen Altar gegeben haben, aber es dauerte dann doch bis zum Jahr 516 v. Chr., bis der neue Tempel eingeweiht werden konnte.
"Die Einwohner Samarias - die ehemaligen Bürger des Nordreichs und die von den Assyrern dorthin verschleppten Verbannten - hören von dem Baubeginn für den zweiten Tempel, kommen zu Serubbabel und bitten ihn, mitarbeiten zu dürfen. Aber Jeshua, der Priester, und Serubbabel schicken die Bewohner des Nordens fort und sagen ihnen unverblümt: 'Es ziemt sich nicht, dass ihr und wir miteinander das Haus unseres Gottes bauen' (Esr. 4,3). Die Fraktion, die sich in der Verbannung behauptet hat, ist mittlerweile nämlich der Ansicht, sie besitze das göttliche Recht, den Charakter judäischer Orthodoxie zu bestimmen.
Voller Groll behindert [daraufhin] 'das Volk des Landes' die Arbeit und schreibt sogar dem persischen König einen Brief, in dem es die Juden beschuldigt, sie wollten 'die aufrührerische und böse Stadt wieder aufbauen', und voraussagt, dass, 'wenn diese Stadt wieder aufgebaut wird und die Mauern wieder errichtet werden, so werden sie Steuern, Abgaben und Zoll nicht mehr geben, und zuletzt wird es den Königen Schaden bringen, … und … hernach [wirst du] nichts behalten … von dem, was jenseits des Euphrats liegt' (Esr. 4,12 - 16). Als der persische König diesen Brief erhält, ordnet er [zunächst] die Einstellung aller Bauarbeiten in Jerusalem an." (FuS, S. 320)

Die ersten Massaker an Juden

Diese jüdische Sichtweise, die der biblischen Theologie der Jerusalemer Tempelpriesterschaft innewohnt, kam letztlich bei den anderen Völkerschaften, mit denen die Israeliten zusammenlebten, nicht gut an. Man hielt sie für hochnäsig und arrogant und für Verächter der Götter der anderen Völker. Manfred Clauss schreibt dazu (S. 93 - 95): "Hinzu kam, dass einige Erscheinungsformen der jüdischen Religion den Boden für Spannungen mit der Mitwelt bereiteten. In Judäa, vor allem aber in der Diaspora in Ägypten war man auf das Zusammenleben mit der hellenistisch geprägten Umgebung angewiesen. In Judäa galt dies vor allem für die Vertreter der Staatsregierung, welche die Integration in die hellenistische Zivilisation suchten. Diese Assimilation rief den Widerstand traditionsbewusster Kreise hervor, die jeglichen Kompromiss in dieser Hinsicht rigoros ablehnten.
Eine solche Haltung stieß wiederum bei vielen Nachbarn auf Unverständnis. Dazu trug nicht zuletzt auch das Selbstverständnis der jüdischen Auserwähltheit bei, das, wie manchen Erzählungen des Alten Testaments zu entnehmen ist, recht seltsame Blüten trieb.
Die Geschichte von der Flucht einer Gruppe von Nomaden aus Ägypten Jahrhunderte vor der Regierungszeit Davids war schon lange zu einem großartigen Sieg über die Truppen des Pharao, allgemeiner formuliert, zu einem Erfolg über Ägypten ausgemalt worden. Doch dabei blieb die jüdische Tradition nicht stehen. Immer großartiger gestaltete sich dieser angebliche militärische Sieg, und entsprechend die Schilderung der desolaten Lage Ägyptens. Während Herodot Ägypten als 'Geschenk des Nil' gepriesen hatte, verwandelte sich der Strom in den jüdischen Erzählungen vom Exodus in eine ungenießbare und unfruchtbare Brühe, die zudem von Legionen von Fröschen wimmelte; Ägypten als Land der Mücken-, Bremsen- und Heuschreckenplage, die Ägypter als pestverseuchtes Volk, von aufbrechenden Geschwulstbeulen gezeichnet. Dieses Bild, aus einigen der zehn Plagen zusammengefasst, verbanden die Juden mit jenen Siegesmeldungen, die in dem Refrain gipfelten (Exodus 15,21): 'Singet dem Herrn, denn hocherhaben ist er, Pferd und Reiter warf er ins Meer.'
Solange die Juden dies in einer Sprache tradierten, die nicht sonderlich verbreitet war, mag zwar manche Geschichtsklitterung bekannt geworden sein, aber dies blieb ohne Auswirkung. Erst nach Entstehung der Septuaginta am Anfang des 3. Jahrhunderts [v. Chr.], der griechischen Übertragung des Alten Testaments, änderte sich die Lage schlagartig. Die Gelehrten, die den Text in die neue Sprache übertragen hatten, hatten sich zwar bemüht, manche Härten für griechische Augen und Ohren zu glätten, aber die zahllosen Ausfälle gegen die Ägypter waren nicht unter den Tisch zu kehren. Und in Ägypten verstand man in zunehmendem Maße die griechische Sprache. Zur Verbreitung der Erzählung trug auch jener nicht näher bekannte jüdische Dramatiker Ezechiel bei, der im 2. Jahrhundert [v. Chr.] die Flucht aus Ägypten in Form einer griechischen Tragödie gestaltete, für uns heute das größte Stück dieses Genres nach Euripides.
So überrascht es eigentlich nicht, wenn die Ägypter mit gleicher Münze heimzahlten. Nicht die Juden seien aus Ägypten geflohen, sondern die Ägypter hätten die Juden vertrieben, weil diese für die Ausbreitung einer ansteckenden Seuche verantwortlich gewesen seien. Das Wort für den jüdischen ›Sabbath‹ ähnelte dem ägyptischen sabbatosis, der Bezeichnung für einen Tumor in der Leistengegend. Auf den Wanderungen hätten die Juden diesen Tumor zusammengedrückt, der sie dennoch an jedem siebten Tag zur Ruhe gezwungen hätte, weshalb die Juden eben den Sabbath als Ruhetag feierten.
Ägypter sind Schurken, Kreter Lügner, Boiotier Säufer, Abderitaner Narren, Syrer geborene Sklaven und so fort. Die Liste derartiger Charakterisierungen aus der antiken Literatur ist lang. Hier reihen sich die jüdischen Topoi über die Ägypter wie diejenigen anderer Völker über die Juden nahtlos aneinander. Aber der jüdische Absolutheitsanspruch, das auserwählte Volk schlechthin zu sein, und die entsprechende Diskriminierung der übrigen waren bis dato in der Antike unbekannt. Nun setzte eine Entwicklung jüdischer Religion und Kultur ein, die einerseits starke Ressentiments anderer Völker gegenüber den Juden begünstigte, andererseits aber die Bewahrung kultureller und religiöser Identität des jüdischen Volkes sicherte, und zwar noch in den grauenvollsten Phasen seiner Geschichte. Die strengen Glaubensgesetze der Juden veranlasste sie, sich entschieden von der ›unreinen‹ Umwelt abzugrenzen; diese deutete eine solche Haltung als Intoleranz und Arroganz."
Auf diesem Hintergrund kam es während des jüdischen Aufstandes gegen die Römer (66 - 74 n. Chr.) "in mehreren Städten [zu] Massaker[n] an der jüdischen Bevölkerung" (Clauss, S. 112).

Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus

Wer jetzt glaubt, hier den Grund für den nachfolgenden fast zweitausend Jahre währenden Antijudaismus und Antisemitismus in der Hand zu halten, irrt. Mit dem Erlöschen des Staates Judäa erlosch auch die Grundlage der Bibel. All die Aussagen der Bibel bezogen sich auf einen israelitischen Staat; ohne diesen können logischerweise keine israelitischen Heere mehr irgendwelche Nachbarländer angreifen. Ohne einen Tempel, ohne eine Tempelpriesterschaft sind all die vielen Bestimmungen zu den Priestern in der Bibel Makulatur.
Der Antijudaismus und Antisemitismus der folgenden fast zweitausend Jahre geht allein auf die Christen zurück, die den Juden die Schuld daran gaben, dass das Reich Gottes nicht angebrochen ist - denn: hätten sie daran geglaubt, dass Jesus der Messias war bzw. ist, dann wäre die Bedingung Gottes für sein Kommen sicherlich erfüllt gewesen, dann würden wir schon längst im Reich Gottes auf Erden leben - so spannen sich das die Christen zusammen. Wer sich hierüber noch eingehender informieren möchte, der sei auf einige meiner Bücher verwiesen, die sich unter anderem mit dieser Thematik beschäftigen.
In allen Ländern, in denen das Christentum dominierte, wie z. B. in Russland, Deutschland, Frankreich, Österreich-Ungarn, wucherte das Pestkraut des Antisemitismus, während in nicht-christlichen Ländern wie Indien oder China, ja, selbst im Palästina des 19. Jahrhunderts Antisemitismus nie eine Rolle spielte; dort konnten Juden stets unbehelligt ihre Religion ausüben, ihren Sitten und Bräuchen gemäß leben und gute Nachbarschaft mit allen anderen Einwohnern halten.

14. Mai 1948: Israel ersteht neu

Wenn wir oben feststellten: "Mit dem Erlöschen des Staates Judäa erlosch auch die Grundlage der Bibel. All die Aussagen der Bibel bezogen sich auf einen israelitischen Staat; ohne diesen können logischerweise keine israelitischen Heere mehr irgendwelche Nachbarländer angreifen", so hat sich seit 1948 die Situation grundlegend verändert. Seit dem 14. Mai 1948 gibt es wieder einen israelitischen Staat in Palästina, Israel. Und wie im alten Israel leben auch heute die Israelis nicht allein in Palästina; sie sind umgeben von Arabern, von Palästinensern. Wie kam es dazu?

Der Zionismus

Ende des 19. Jahrhunderts hatten führende Juden Europas die Schnauze voll von diesen ewigen Demütigungen, Beleidigungen, Drangsalierungen, Pogromen und Verfolgungen der Juden durch das "christliche" Europa. 2000 Jahre (christlichem) Antisemitismus ausgesetzt zu sein, 2000 Jahre ein gehetztes Volk zu sein - bloß deshalb, weil die Juden die "Frechheit" besaßen, an dem Glauben ihrer Väter festzuhalten -, davon hatten Juden wie Judah Alkalai, Zwi Hirsch Kalischer, Moses Hess, Leo Pinsker, Theodor Herzl und andere, endgültig genug. Es reichte!
"Wir [Juden] haben überall ehrlich versucht, in der uns umgebenden Volksgemeinschaft unterzugehen und nur den Glauben unserer Väter zu bewahren. Man lässt es nicht zu. Vergebens sind wir treue und an manchen Orten sogar überschwängliche Patrioten, vergebens bringen wir dieselben Opfer an Gut und Blut wie unsere Mitbürger, vergebens bemühen wir uns den Ruhm unserer Vaterländer in Künsten und Wissenschaften, ihren Reichtum durch Handel und Verkehr zu erhöhen. In unseren Vaterländern, in denen wir ja auch schon seit Jahrhunderten wohnen, werden wir als Fremdlinge angeschrien; oft von solchen, deren Geschlechter noch nicht im Lande waren, als unsere Väter da schon seufzten."11
Wenn man die Juden dauerhaft nicht in Frieden leben ließ, dann gingen sie eben, dann schüttelten sie verachtungsvoll den Staub ihrer christlichen "Vaterländer" von ihren Schuhen und gingen zurück in ihr eigentliches Vaterland, aus dem sie von den Römern vertrieben worden waren, dann gingen sie zurück nach Palästina, zum Zionshügel in Jerusalem, dem alten Wohnsitz ihres Gottes Jahwe.

Der Islam - eine neue Religion in alter Region

Klang gut, konnte begeistern, aber: Während der vergangenen 2000 Jahre waren andere Völkerschaften dort sesshaft geworden, hatten Araber das Land besiedelt, hatte eine neue Religion dort Wurzeln geschlagen: der Islam.
Was die Leserin und der Leser nun erwarten könnten, wäre eine Darstellung der geschichtlichen Entwicklungen in Palästina; da es hier jedoch um die politische Dimension des Nahost-Konflikts geht, würde das den Rahmen dieser Abhandlung sprengen. Wer dazu etwas lesen möchte, sei beispielsweise auf Gudrun Krämers "Geschichte Palästinas" verwiesen (München: Beck, 20035) oder auf das etwas ältere Taschenbuch von Walter Hollstein: "Kein Frieden um Israel. Zur Sozialgeschichte des Palästina-Konflikts" (Ffm.: Fischer, 1972). Hier werden nur die geschichtlichen Fakten angeführt, welche benötigt werden, um das Anliegen dieser Schrift zu verstehen.
Warum der Palästina-Konflikt nicht gelöst werden kann, hängt in allererster Linie mit den unterschiedlichen Religionen der beiden Konflikt-Parteien zusammen (von weiteren Religionen in diesem Raum wird hier abgesehen, um das Bild nicht bis zur Unkenntlichkeit zu verkomplizieren): Die Araber/Palästinenser hängen mehrheitlich dem Islam an, die Juden mehrheitlich dem Judaismus und beide Religionen haben klare Feindbilder entwickelt: Beim Islam sind die Feinde die "Ungläubigen" - das sind all diejenigen, die nicht dem Islam angehören - und beim Judaismus sind die Feinde alle nicht-jüdischen Völkerschaften, welche - wie wir oben gesehen haben - mit den Israeliten in Konkurrenz um das "Gelobte Land", also um Palästina, stehen; waren das früher beispielsweise Jebusiter, Amoriter, Girgaschiter, Hiwiter usw., so sind es heute die Palästinenser.
Schauen wir uns zunächst das Feindbild des Islam näher an: Grundlage des islamischen Feindbildes ist der Koran und in der Tat gibt es viele Stellen im Koran, wo Allah (d. h. Mohamed!) zu Mord und Totschlag gegenüber den "Ungläubigen" aufruft, so in den Suren (Versen) 2(192), 4(75 u. 77), 8(13), 9(5, 14, 26, 29, 30, 41, 73, 111 u. 123):12
2(192)
Und tötet sie, wo immer ihr auf sie stoßt, [...] das ist die Vergeltung für die Ungläubigen.
4(75 u. 77)
Lasst also solche für Allahs Sache kämpfen, die das irdische Leben hinzugeben gewillt sind für das zukünftige. Und wer für Allahs Sache ficht, ob er fällt oder siegt, Wir werden ihm bald großen Lohn gewähren. [...]
Die da glauben, kämpfen für Allahs Sache, und die nicht glauben, kämpfen für die Sache des Bösen. Kämpft darum wider die Freunde Satans! Denn gewiss, Satans Feldherrnkunst ist schwach.
8(13)
Da dein Herr den Engeln offenbarte: 'Ich bin mit euch; so festiget denn die Gläubigen. In die Herzen der Ungläubigen werde Ich Schrecken werfen. Treffet (sie) oberhalb des Nackens und schlagt ihnen die Fingerspitzen ab!'
9(5)
Und wenn die verbotenen Monate verflossen sind, dann tötet die Götzendiener, wo ihr sie trefft, und ergreift sie, und belagert sie, und lauert ihnen auf in jedem Hinterhalt. [...]
9(14)
Bekämpfet sie; Allah wird sie strafen durch eure Hand und sie demütigen und euch [...] helfen wider sie [...].
9(26)
Dann senkte Allah Seinen Frieden auf Seinen Gesandten und auf die Gläubigen und sandte Heerscharen hernieder, die ihr nicht sahet, und strafte jene, die ungläubig waren. Das ist der Lohn der Ungläubigen.
9(29)
Kämpfet wider diejenigen aus dem Volk der Schrift [den Juden], die nicht an Allah und den Jüngsten Tag glauben [...].
9(30)
Die Juden sagen, Esra sei Allahs Sohn, und die Christen sagen, der Messias sei Allahs Sohn. Das ist das Wort ihres Mundes. Sie ahmen die Rede derer nach, die vor dem ungläubig waren. Allahs Fluch über sie! Wie sind sie irregeleitet!
9(41)
Ziehet aus, leicht und schwer, und streitet mit eurem Gut und eurem Blut für Allahs Sache! [...]
9(73)
O Prophet, streite gegen die Ungläubigen und die Heuchler. Und sei streng mit ihnen. Ihr Aufenthalt ist die Hölle, und schlimm ist die Bestimmung!
9(111)
Allah hat von den Gläubigen ihr Leben und ihr Gut für den [Paradies-] Garten erkauft; sie kämpfen für Allahs Sache, sie töten und fallen [...].
9(123)
O die ihr glaubt, kämpfet wider jene der Ungläubigen, die euch benachbart sind, und lasst sie in euch Härte finden; und wisset, dass Allah mit den Gottesfürchtigen ist.

Mohameds Antijudaismus

Wiewohl Mohamed praktisch das jüdische religiöse Weltbild zur Grundlage seiner eigenen Religion gemacht hat, übernimmt er von den Christen deren Judenfeindschaft. Nacheinander vertrieb oder tötete er jüdische Stämme seiner Zeit und riss sich deren Hab und Gut unter den Nagel: "Alle Mitglieder des Stammes [der Banu Qainuqa?] mussten Medina verlassen und ihr Hab und Gut zurücklassen."13 Erneute Geldnot veranlasste Mohammed später "gegen den zweiten jüdischen Stamm in Medina, die Banu N-Nadir vorzugehen. [...] [Mohamed] belagerte daraufhin den Stamm, der vom Ackerbau lebte; er ließ die Ernte auf den Feldern verbrennen, vertrieb die Menschen aus der Oase und beschlagnahmte ihren Besitz." (AS, S. 188) Schließlich warf er dem jüdischen Stamm der Banu Quraiza Hochverrat vor und belagerte sie "vier Wochen lang, bis alle sich ergaben. [...] Alle Männer des Stammes mussten enthauptet werden, alle Frauen und Kinder wurden versklavt." (AS, S. 190/1) Vers 51 der 5. Sure des Koran verbietet es den Moslems, Juden und Christen zu Freunden zu nehmen, und nach den Versen 59/60 der 5. Sure habe Allah aus dem "Volk der Schrift" (Juden) "Affen und Schweine gemacht".14
Dazu gibt es nicht wenige Muslime, die gegenüber den anderen Religionen, insbesondere dem Juden- und dem Christentum, einen Überlegenheitsanspruch formulieren, ja, auch gegenüber nicht-islamischen Gesellschaften wie beispielsweise den westlichen Demokratien. Diese beanspruchte Dominanz gegenüber "Ungläubigen" leiten sie aus Suren des Koran ab: Sure 3,20: "Als (einzig wahre) Religion gilt bei Allah der Islam." Sure 3,110: "Ihr seid die beste Gemeinschaft, hervorgebracht zum Wohl der Menschheit; ihr gebietet das Gute und verwehrt das Böse und glaubt an Allah." Sure 2,143: "Und so machten wir euch zu einer Gemeinde, die in der Mitte steht, auf dass ihr Zeugen für die (anderen) Menschen seid."

Allein der Glaube - macht Massenmörder!

Vergleicht man nun die gläubigen muslimischen Palästinenser mit den gläubigen Juden, so stellt man überrascht fest, dass - den religiösen Aspekt betrachtend - die eine Gruppe das exakte Spiegelbild der anderen Gruppe darstellt: Beide halten sich für die Auserwählten Gottes, beide glauben, dass allein ihr Gott der wahre Gott sei, neben dem es keinen anderen gibt, beide glauben, dass die außerhalb ihrer Glaubensgemeinschaft stehenden Menschen, Gruppen, Religionen, Völkerschaften ihre Feinde sind, Ungläubige, Untermenschen, Tiere, die Gott ihnen zum Massakrieren freigegeben hat.
Man kann die unvorstellbar barbarische Schlächterei, welche Angehörige der muslimischen Palästinenserorganisation Hamas an über 1100 unschuldigen Menschen im Süden Israels am 7. Oktober 2023 verübt haben, nur auf diesem religiösen Hintergrund begreifen; es ist die Religion, die Ideologie, die aus jungen Männern verabscheuungswürdige Monster bar jeder menschlichen Regung macht: Sie heißen Globocnik und Himmler, sie sind die Schergen des Pol-Pot-Regimes auf Kambodschas "Killing Fields", sie sind die Jakobiner im Paris zwischen dem Juni 1793 und dem August 1794 und sie sind die Geistlichen der kirchlichen Inquisition - allen voran Konrad von Marburg - im Mittelalter und der frühen Neuzeit. Um - verballhornt - ein Lutherzitat zu bemühen: Allein der Glaube - macht Massenmörder! Davon sind auch Juden nicht ausgenommen; rufen wir uns bereits oben gemachte Ausführungen wieder ins Gedächtnis:
"Und so kam es denn auch in der weiteren Geschichte des alten Israel immer dann, wenn die israelitischen Herrscher unabhängig agieren konnten und sich die Gebiete benachbarter Nationen einverleibten, aus religiösen Motiven heraus zu furchtbaren Metzeleien, wie wir oben bereits gesehen haben. Richtschnur: Psalm 79,6: 'Gieße deinen Zorn aus über die Völker, die dich nicht erkennen, und über die Königreiche, die deinen Namen nicht anrufen!' oder Jesaja 63,6: 'Da zerstampfte ich Völker in meinem Zorn, / machte sie trunken in meiner Wut / und ließ ihren Saft zur Erde rinnen.' Auch bei prophetischen Visionen über eine messianische Endzeit konnten sich die meisten Propheten die außerjüdischen Völker der Erde nur als von Jahwe Besiegte und Unterworfene vorstellen; Beispiel: Jesaja (24,21 - 25,12) erwartete die Entmachtung der Feinde Jahwes unter Zerstörung ihrer Hauptstädte, für die (noch lebenden) Völker und 'an jenem Tag fordert der HERR Rechenschaft in der Höhe / vom Heer in der Höhe / und auf dem Erdboden von den Königen des Erdbodens. Sie werden gefesselt in einer Grube zusammengetrieben, / eingeschlossen in einem Kerker / und nach vielen Tagen wird er sie strafen.' (Jes24,21/2) oder Sacharja 14,12: 'Dies aber wird der Schlag sein, mit dem der HERR alle Völker schlägt, die gegen Jerusalem in den Krieg gezogen sind: Er lässt das Fleisch eines jeden verfaulen, noch während er auf seinen Füßen steht; und die Augen verfaulen ihm in ihren Augenhöhlen und die Zunge verfault ihm in seinem Mund.' Oder im Deuteronomium lässt der Priester Jeremia Mose sagen (Dtn7,1 - 5): 'Wenn der HERR, dein Gott, dich in das Land geführt hat, in das du jetzt hineinziehst, um es in Besitz zu nehmen, wenn er dir viele Völker aus dem Weg räumt - Hetiter, Girgaschiter und Amoriter, Kanaaniter und Perisiter, Hiwiter und Jebusiter, sieben Völker, die zahlreicher und mächtiger sind als du -, wenn der HERR, dein Gott, sie dir ausliefert und du sie schlägst, dann sollst du an ihnen den Bann vollziehen. Du sollst keinen Vertrag mit ihnen schließen, sie nicht verschonen und dich nicht mit ihnen verschwägern. Deine Tochter gib nicht seinem Sohn und nimm seine Tochter nicht für deinen Sohn! Wenn er dein Kind verleitet, mir nicht mehr nachzufolgen, und sie dann anderen Göttern dienen, wird der Zorn des HERRN gegen euch entbrennen und wird dich unverzüglich vernichten. So sollt ihr gegen sie vorgehen: Ihr sollt ihre Altäre niederreißen, ihre Steinmale zerschlagen, ihre Kultpfähle umhauen und ihre Götterbilder im Feuer verbrennen.'"
Es waren Leviten am Jerusalemer Tempel, welche den jungen König Josia im siebten Jahrhundert v. Chr. mit solchen ethischen Maximen zur Eroberung eines "Erez Israel" ermuntern wollten. Glücklicherweise wurde Josia rechtzeitig durch einen tödlichen ägyptischen Pfeil daran gehindert, diesen barbarischen levitischen Jahwe-Forderungen die entsprechenden Taten folgen zu lassen. Fakt ist jedoch, dass diese Ungeheuerlichkeiten bis heute in der Bibel stehen und damit zu den Glaubensgrundlagen gläubiger Juden zählen. Und wenn bis heute (27.01.2024) als Reaktion auf die grausige Hamas-Tat die israelische Armee im Gaza-Streifen - als "Kollateralschäden" - bereits viele Tausend unschuldiger Zivilisten getötet hat, so fügt sich das bestätigend in die bisherigen Ausführungen.

Palästinenser, Juden und Briten

Die Ausschließlichkeit dieser beiden Gemeinschaften, der muslimischen Palästinenser und der Juden, prägte nicht erst mit Beginn der britischen Mandatszeit deren Verhältnis in Palästina zueinander. Man lebte im Osmanischen Reich zwar friedlich, ja selbst in gut nachbarschaftlichem Verhältnis miteinander im selben Land, aber man hatte nicht wirklich etwas mit der jeweils anderen Gruppe zu tun. Solange die Juden im moslemischen Osmanischen Reich, hier speziell in Palästina, nur eine unbedeutende Minderheit stellten, die einfach nur still ihren Beschäftigungen nachging, die keinerlei Anspruch auf politische Einflussnahme und Partizipation an dem Machtgerangel muslimischer Familienclans im öffentlichen Leben der Region anmeldete, ließ man sie weitgehend in Frieden, und so schien auf den ersten Blick das Zusammenleben dieser beiden Gruppen problemlos zu sein. Tatsächlich aber hielten sich schon damals Muslims und Juden getrennt voneinander, war es kein Miteinander, sondern lediglich ein Nebeneinander zweier Gruppen, die sich sonst nicht füreinander interessierten.
Diese Erkenntnis dämmerte der britischen Mandatsmacht allmählich, nachdem erste, zaghafte Versuche einer Grundlegung eines gemeinsamen Staatswesens in diesem Raum insbesondere an der Weigerung der arabisch-palästinensischen Seite scheiterten, auf Augenhöhe mit den Juden in einem gemeinsamen Staat zu leben, wobei man sagen muss, dass auch die jüdischen Zionisten von dieser Idee wenig hielten. Und so war das Mandat der Briten von vornherein zum Scheitern verurteilt: Sie wollten mit den gesellschaftlichen Gruppen dieses Raumes nach und nach staatliche Strukturen aufbauen, die dann zur Gründung eines Staates Palästina im Verbund des britischen Commonwealth führen sollten, die Araber jedoch wollten endlich ihre uneingeschränkte Unabhängigkeit erreichen und die Juden wollten einen Schutzraum, eine Heimstätte, einen Staat in ihrem alten Siedlungsgebiet errichten, in dem sie frei, selbstbestimmt und sicher unter ihresgleichen leben konnten. In Palästina konvergierte nichts, in Palästina divergierte alles. Armes Großbritannien!

Die jüdische Einwanderung

Betrachten wir uns nun die beiden Gruppen zu Beginn der britischen Mandatszeit näher. Zu den Juden, die schon immer in Palästina gelebt haben, kamen im Zuge der zionistischen Aktivitäten zwischen 1880 und 1929 ca. 120 000 neu hinzu.15
"Die erste Alija [Einwanderungswelle] zwischen 1882 und 1903 umfasste etwa 25.000 hauptsächlich russische und rumänische Juden und war nicht zuletzt eine Reaktion auf eine Reihe von antisemitischen Pogromen in Südrussland. Sie führte zu ersten größeren Ortschaften und landwirtschaftlichen Betrieben in einem Gebiet, das bis dato relativ dünn besiedelt und wirtschaftlich schwach entwickelt war. Zwischen 1904 und 1914 kamen weitere 40.000 Juden nach Palästina. Bei dieser Gruppe handelte es sich überwiegend um Angehörige der ‚zionistischen Arbeiterschaft' in Russland, die unzufrieden mit dem Verlauf der sozialen Reformbewegungen waren und infolge der Umwälzungen des Jahres 1905 ebenfalls Opfer von antisemitischen Übergriffen wurden. Weitere rund 35.000 Einwanderer, überwiegend aus Polen und Russland bzw. der Sowjetunion, bildeten zwischen 1919 und 1923 die dritte Alija, die u. a. durch die Balfour-Erklärung und den damit verbundenen Aufschwung für das zionistische Projekt eines eigenen jüdischen Staates motiviert war. Zwischen 1924 und 1931 kamen weitere 80.000 Juden, wiederum primär aus der Sowjetunion und aus Polen. Besonders die polnischen Juden litten unter dem Antisemitismus in der polnischen Regierungspolitik, die sie aus wichtigen Segmenten der Wirtschaft ausschloss. Im Gegensatz dazu waren die Möglichkeiten zur wirtschaftlichen Entfaltung für Juden in Palästina zu dieser Zeit bereits deutlich verbessert, und eine jüdische Infrastruktur hatte sich herausgebildet.
[…]
Die größte vorstaatliche Einwanderungswelle, die fünfte Alija zwischen 1932 und 1939, umfasste rund 200.000 Juden. Sie hatten - überwiegend nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 - die Zeichen der Zeit erkannt und sich entschieden, ihre Heimat zu verlassen. Unter den Immigranten der 1930er Jahre waren auch bereits mehrere Tausend Juden aus orientalischen Ländern mit großen jüdischen Gemeinden wie etwa Jemen und Irak. Zwischen 1939 und 1945 gelang weiteren rund 70.000 europäischen Juden aus Polen, Deutschland, Rumänien, Ungarn und der Tschechoslowakei die Flucht vor dem Nazi-Terror. Bisweilen werden sie ebenfalls der fünften Alija zugerechnet. Diese Einwanderer hatten nicht nur die Schwierigkeit der Ausreise aus Mittel- und Osteuropa zu bewältigen, sondern sahen sich auch vor dem Hintergrund einer sich abzeichnenden Teilung Palästinas mit restriktiven Einwanderungsbestimmungen der britischen Mandatsmacht konfrontiert. Am Vorabend der israelischen Staatsgründung umfasste die jüdische Bevölkerung Palästinas über 600.000 Menschen.
Für die überlebenden jüdischen Gemeinschaften im Nachkriegseuropa hatte der gewonnene Unabhängigkeitskrieg Signalwirkung. Mehrere Zehntausend Juden machten sich auf den Weg nach Israel. Bereits kurz nach der Staatsgründung fand auch eine Masseneinwanderung orientalischer Juden aus dem Iran, dem Irak, Marokko und Jemen statt, die teilweise einem Exodus gleichkam und in den Herkunftsländern quasi zu einem Verschwinden der jüdischen Bevölkerungsgruppen führte. Allein in den ersten Jahren zwischen 1948 und 1952 kamen über 600.000 jüdische Immigranten nach Israel und verdoppelten die Gesamtbevölkerung. Mitte der 1950er und Anfang der 1960er Jahre sank die jährliche Gesamtzahl der Neueinwanderer. Zwischen 1960 und 1989 kamen durchschnittlich 15.000 pro Jahr, der größte Teil aus Europa sowie aus Nord- und Mittelamerika.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs setzte die bis dato größte Einwanderungswelle ein. Sie war zu fast 90 % von Zuwanderern aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion geprägt und hält auf niedrigem Niveau bis heute an. Hauptherkunftsländer sind Russland und die Ukraine. Seit 1989 sind insgesamt rund 1,3 Millionen Juden und nicht-jüdische Familienangehörige als Immigranten nach Israel gekommen. Eine bedeutende Einwanderergruppe der letzten Jahrzehnte waren daneben Juden aus Äthiopien. Die Einwanderung ist seit dem Ausbruch der zweiten Intifada im Herbst 2000 jedoch stark rückläufig; im Jahr 2006 kamen weniger als 20.000 Neueinwanderer nach Israel, 2007 waren es nur noch rund 18.000 (im Vergleich zu durchschnittlich 73.000 pro Jahr zwischen 1992 und 1999)."16

Palästina - kein Paradies

Während bei der heutigen Immigration beispielsweise nach Deutschland meist die Pull-Faktoren die Push-Faktoren deutlich überwiegen, waren es bei den jüdischen Immigranten nach Palästina eindeutig die Push-Faktoren, die den Ausschlag gaben: Man machte den Juden in ihren bisherigen Heimatländern das Leben derart zur Hölle, dass Emigration als einziger Ausweg aus dieser Situation blieb. Diejenigen Emigranten, welche sich für Palästina entschieden, wählten dabei wahrlich nicht das Paradies: Joseph Baratz17, der 1906 seine Heimat Russland nach einer blutigen Judenverfolgung verließ und nach Palästina ging, schildert in seinem Buch "Siedler am Jordan. Die Geschichte vom ersten Kibbuz" seine erste Zeit in diesem Land: "Die Arbeit war viel schwerer als in Rechovot. Bei der großen Hitze mussten wir den ganzen Tag in weißem Staub hocken und Steine hauen. Meine Handflächen waren ja hart geworden vom Graben, aber beim Steinehauen braucht man auch die Finger, und bald waren meine so wund, dass ich abends nicht einmal ein Stück Brot mehr halten konnte. Alles tat mir weh, und ich war hungrig, und ich konnte nicht schlafen.
Die ersten Wochen in Jerusalem waren schrecklich. Man hatte mir eine Hütte zugewiesen zwischen ein paar Olivenbäumen, und jeden Abend kroch ich heimlich unter die Bäume und weinte. Ich hatte solche Angst, dass ich nicht durchhalten könnte, und ich war so allein, und meine Finger taten weh. Tagsüber tat ich so, als ob ich fröhlich wäre. Ich war ja ein Pionier, und ich schämte mich. Aber nachts konnte ich nicht schlafen; ich hatte solche Sehnsucht nach Vater und Mutter und schlich mich aus der Hütte unter die Bäume und setzte mich hin und weinte.
Unsere Unterstützung reichte kaum fürs Essen, und selbst als wir ein bisschen dazuverdienten, waren wir immer noch hungrig. Deshalb taten drei meiner Freunde und ich uns nach einiger Zeit zusammen zu einer kleinen Gemeinschaft. Dabei ging es uns allen viel besser; wir kamen mit dem Geld besser aus, und einer munterte den anderen auf.
Von den dreien war der eine Ukrainer, der andere Galizier, der dritte Pole. Der Galizier war der Sohn eines Bonbonfabrikanten. [...] Sedlitzki, der Pole, war Student gewesen. Wir taten unseren Lohn in eine gemeinsame Kasse - jeder verdiente etwa einen Schilling pro Tag - und jeden Abend verhandelten wir, was dafür gekauft werden sollte."
Edgar Hilsenrath18 schildert in seinem autobiographischen Roman "Die Abenteuer des Ruben Jablonski" seine erste Zeit in Palästina:
"Kurt holte eine alte Matratze aus dem Keller und sagte: 'Ich bringe dich jetzt in ein Haus, wo du umsonst wohnen kannst. [...] Es handelt sich um ein Haus, das nicht fertig gebaut wurde, ich nehme an, weil die Baufirma pleite ist. [...] Es hat nur keine Fenster und auch kein Dach und keine Türen. Nicht mal einen Fußboden.' 'Wieso keinen Fußboden?' 'Es ist ein Flachbau und hat nur ein Erdgeschoss. Der Fußboden ist gewöhnlicher Wüstensand.' 'Und wer wohnt in diesem Haus?' 'Neueinwanderer', sagte Kurt. 'Sie bringen sich ihre Betten selber mit und stellen sie in den leeren Räumen auf.' 'Und sie schlafen dort?' 'Natürlich.' Kurt brachte mich zu diesem Haus. Es lag etwas außerhalb der Stadt in einem Orangenhain. Draußen war ein Hof mit einer Wasserpumpe. 'Hier kann man sich sogar waschen', sagte ich. 'Ja, das kannst du', sagte Kurt. Da das Haus keine Türen hatte, traten wir ohne weiteres ein. Ich sah einen großen Schlafsaal, in dem ungefähr dreißig Betten standen. Die Neueinwanderer saßen oder standen um die Betten herum, manche rauchten, andere unterhielten sich. Es war ziemlich viel Lärm im Raum. Kurt deutete auf eine leere Stelle am Ende des großen Raumes. 'Da, leg deine Matratze hin', sagte er. Ich ließ mich nicht zweimal bitten, breitete die Matratze auf dem Fußboden aus. Der Boden war wirklich Wüstensand. 'Auf dem Sandfußboden liegst du weich', sagte Kurt. [...] Ich hatte kein Kopfkissen und legte meine graue Hose unter den Kopf. Eine Decke brauchte ich nicht, denn es war sommerlich warm. Früh morgens [...] ging ich dann zur Wasserpumpe in den Hof. Ich wusch mich nackt, und da ich kein Handtuch hatte, trocknete ich mich mit einem alten, schmutzigen Hemd ab."

Die Staatsgründung Israels - eine staatsmännische Meisterleistung

Während die "Leistungen" der "arischen Herrenmenschen" Hitlers darin bestanden, fast ganz Europa in Schutt und Asche zu legen, Leid, Not, Elend und Tod über Millionen von Menschen zu bringen, gelang es den "jüdischen Untermenschen", den Zionisten, mit unglaublichem Organisationstalent, mit Klugheit, Entschlossenheit, Beharrlichkeit und Geschick, den Staat Israel nach über 2600 Jahren wiedererstehen zu lassen, den Juden wieder eine sichere Heimstatt zu schaffen - eine Leistung, die ihresgleichen in der Menschheitsgeschichte sucht.
"Die Juden waren straff organisiert. Irgendwie klappte alles bei ihnen, sie bauten Häuser und Straßen und bewässerten ihre Felder, sie pflanzten Bäume in der Wüste und wussten, wie man das spärliche Regenwasser in die Baumpflanzungen leitete. Die Juden eröffneten immer wieder neue Geschäfte und bauten Fabriken. Es gab mehr jüdische Ärzte, als man brauchte. Überall waren Krankenhäuser und Spitäler, und es gab sogar einen jüdischen Not- und Unfalldienst, einen kleinen Bus, der an der Stelle des Roten Kreuzes einen roten Davidstern hatte."19
Kommen wir zu den (arabischen) Palästinensern. Sie hatten das Pech, in einer "Zeitenwende" zu leben, welche die Zionisten genutzt haben, während die Palästinenser als Verlierer aus dieser "Zeitenwende" hervorgegangen sind. Worin bestand diese "Zeitenwende"? Den Ersten Weltkrieg hatte das Osmanische Reich - neben anderen "Reichen" - verloren und die siegreichen imperialistischen Mächte Frankreich und Großbritannien zerschlugen das Osmanische Reich und verleibten sich Trümmerteile desselben in alter kolonialistischer Manier ein. Jedoch - so ganz wildwestmäßig wie im 18. und 19. Jahrhundert ging es dann doch nicht mehr zu; inzwischen war der Völkerbund gegründet worden und Frankreich und Großbritannien erhielten ein "Mandat", sich um bestimmte "führungslos" gewordene, unterentwickelte Regionen und Gebiete zu "kümmern", sozusagen als Vormund die Verwaltung, Vertretung und Leitung dieser Gebiete zu übernehmen. Frankreich bekam vom "Nahen Osten" den Norden, Großbritannien den Süden mit Palästina.
Die Araber, die hier "bevormundet" wurden, hatte keiner wirklich gefragt. Hätte man sie gefragt, so hätten sie eine klare Antwort gegeben: Wir wollen unsere Unabhängigkeit, wir wollen einen unabhängigen arabischen Nationalstaat. Das Problem dabei war: Da man aus einem zerschlagenen Staat - dem Osmanischen Reich - hervorgegangen war, waren einfach viele notwendige Fragen noch völlig offen: Sollte es ein arabisches Großreich geben, das alle Araber umfasst? Wer sollte darin herrschen? Welche Grenzen sollte es haben? Was machte man mit arabischen Regionen und Machteliten, die sich nicht in solch ein Großreich fügen wollten? Oder sollte es besser mehrere arabische Staaten geben mit einheimischen Machteliten an der Spitze? Wer sollte die herrschenden Machteliten jeweils bestimmen? Würde nicht die ganze Region in selbstzerstörerischen Bürgerkriegen versinken? Welche Verfassung sollte gelten? Welche Rolle sollte die islamische Religion im Staat einnehmen? Wie verfuhr man mit religiösen Minderheiten? Nichts war klar. Alte Machteliten kämpften um den Erhalt ihrer alten Vorrechte und ihrer Macht, neue, nationalistische Gruppierungen samt ihrer Führer traten auf den Plan und meldeten ihre Ansprüche an; in diesem Gerangel um Ansehen, Einfluss und Macht misstraute jeder jedem, keiner erkannte den anderen als Führer an, jeder wollte "sein Ding" machen. - Die Zionisten wussten, was sie wollten; in all dieser arabischen Zerstrittenheit arbeiteten sie konsequent und unermüdlich auf ihr Ziel zu: Die Schaffung einer jüdischen Heimstätte, eines jüdischen Staates. Sie lenkten den immer wieder an- und abschwellenden Zustrom verfolgter Juden nach Palästina, sie "organisierten" die finanziellen Mittel für den Kauf von Land, sie kümmerten sich um die Unterbringung und Versorgung der neu nach Palästina einströmenden jüdischen Immigranten, sie kümmerten sich um den steten Auf- und Ausbau jüdischer Institutionen mit staatlichem Charakter und noch um so vieles andere…
Die einheimische arabische Bevölkerung betrachtete diese Entwicklung mit wachsender Sorge. In manchen Städten Palästinas bekam sie zunehmend das Gefühl, Fremde in der eigenen Stadt zu sein; überall im Land entstanden jüdische Siedlungen, entwickelte sich eine jüdische Infrastruktur - mit einem Wort: Als Araber fühlte man sich zunehmend als Fremder im eigenen Land. Und der unablässige Ankauf von "arabischem" Land durch jüdische Emissäre, das inoffizielle jüdische Verbot, "jüdisches" Land jemals wieder an Araber zurückzuverkaufen - all das deutete für die Araber darauf hin, dass die Juden auf arabischem Boden einen jüdischen Staat schaffen wollten - am Ende einen Staat nur für Juden, araberrein. Hinzu kam für die einfache Araberin und den einfachen Araber der Eindruck, von den ins Land strömenden Juden ginge eine Zersetzung von Sitte und Anstand aus, namentlich jüdische Frauen seien eine Quelle von Unmoral und Sünde20. "Die Unterschiede in Verhalten, Kleidung, Umgangsformen zwischen jüdischen Neueinwanderern und arabischen Einheimischen waren gar nicht zu übersehen, sie zeigten sich in der Stadt wie auf dem Land, besonders auffallend natürlich bei den sozialistisch gesonnenen Pionieren im Allgemeinen und den Pionierinnen im Besonderen. 'Das arabische Palästina ist das biblische geblieben durch die Jahrtausende' [...] 'Die arabische Frau ist verhüllt. Auch die Fellachin [Bäuerin], die das Gesicht frei hat, arbeitet im langen Kleid, sie trägt buntes gesticktes Gewand, farbige Ketten, Reife um die Arme, Münzen um den Kopf. Die jüdische Frau arbeitet auf dem Felde mit nackten Schenkeln, kurzen Hosen, blauer Arbeiterinnenbluse, mit slawischem Kopftuch, mit manchmal geschminktem Mund, und zwischen der schweren Arbeit raucht sie eine Zigarette.' [...] '[...] ein solches Benehmen [wurde] mit Widerwillen, wenn nicht gar als Schmach von den Arabern angesehen [...], die in der strengen Schule des Islam erzogen waren.'"21
Infolge dieser Entwicklungen kam es immer wieder zu Unruhen in der arabischen Bevölkerung, so besonders im September 1928 und im August 1929; von 1936 bis 1939 kam es sogar zu einem regelrechten arabischen Aufstand. Die Araber warfen der Mandatsmacht vor, nichts gegen die jüdische Einwanderung zu unternehmen und den jüdischen Landkauf nicht zu unterbinden. Insgeheim stünde Großbritannien auf der Seite der Zionisten und würde der Gründung eines jüdischen Staates wohlwollend gegenüberstehen (Balfour-Deklaration). Tatsächlich saß Großbritannien zwischen allen Stühlen, und die Versuche, allen Seiten irgendwie gerecht zu werden, endeten meist damit, dass es sich die britische Mandatsmacht sowohl mit den Arabern als auch mit den Juden verdarb. Und so wurden britische Einrichtungen häufig Ziel sowohl arabischer als auch zionistischer Terroristen. Als nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich das ungeheuerliche Ausmaß von Hitlers Judenvernichtung deutlich wurde, wirkte das wie eine schreckliche Bestätigung der zionistischen Idee, in Palästina eine jüdische "Heimstätte", einen international garantierten Schutzraum, einen Staat für die Juden zu errichten.
Großbritannien, zwar siegreich, aber insbesondere wirtschaftlich schwer angeschlagen durch den Krieg, müde der nicht enden wollenden Probleme in ihrem Mandatsgebiet Palästina, sah durch die Gründung der Vereinten Nationen im Herbst 1945 die Möglichkeit, sich endlich ihres Mandats für Palästina zu entledigen. "Ende 1946 wurde die Gesamtbevölkerung Palästinas auf rund 1,94 Millionen geschätzt, davon 1,33 Millionen Araber (1,18 Millionen Muslime und 149 000 Christen), 603 000 Juden und 16 Tausend 'Sonstige'. Der jüdische Anteil lag damit weiterhin bei einem knappen Drittel (31 %). Der jüdische Landbesitz war auf etwa 11 % der kultivierbaren und 20 % der kultivierten Fläche angewachsen. [...] Rund 23 % der Küstenebene und rund 30 % der nördlichen Täler waren in jüdischem Besitz." (Krämer, S. 358)

Der Teilungsplan: Die UN-Resolution 181 II [22]

Palästina sollte in einen jüdischen und einen arabischen Staat geteilt werden; die UNSCOP der Vereinten Nationen erarbeitete einen Teilungsplan, wonach "der jüdische Staat [...] mit gut 55 % der Gesamtfläche [Palästinas] nicht nur erheblich mehr Land erhalten [sollte], als sich zu dieser Zeit in jüdischer Hand befand; auf seinem Gebiet lebten neben 520 000 Juden auch 350 000 Araber" (Krämer, S. 359). Die Vereinten Nationen, denen damals 57 Staaten angehörten, stimmten am 29. November 1947 der Resolution 181 (II) zu (33 Ja-Stimmen, 13 Nein-Stimmen, 10 Enthaltungen, 1 Staat war abwesend), welche die Beendigung des britischen Mandats beinhaltete und vorsah, Palästina in einen Staat für Juden und einen für Araber aufzuteilen, wobei Jerusalem (einschließlich Bethlehem) internationaler Kontrolle unterstellt werden sollte.23
"Die arabische Bevölkerung war weiterhin ganz entschieden gegen eine Teilung und die Gründung eines jüdischen Staats auf dem Territorium, das sie als ihre alleinige legitime Heimat betrachtete. Es konnte nicht sein, dass die Araber Palästinas die Schuld der Europäer beglichen, die 'ihre eigenen' Juden erst diskriminiert, dann verfolgt und schließlich auszurotten versucht hatten, um ihnen dann mit großer Geste ein Land zu schenken, das ihnen nicht gehörte. Arabische Politiker erkannten sehr wohl das Leid an, das den europäischen Juden zufügt worden war - aber von Europäern, nicht von ihnen. Unrecht an den einen konnte nicht mit Unrecht an den anderen gesühnt werden." (Krämer, S. 359/360)

Krieg

Nach der Verabschiedung der UN-Resolution, als damit klar war, dass die Juden ihren Staat gründen würden, lag "in den ersten Wochen und Monaten der Auseinandersetzung [...] die Initiative vor allem auf der arabischen Seite: Es gelang ihr, einen großen Teil der Straßen und Verbindungswege unter ihre Kontrolle zu bekommen (besonders betroffen war Jerusalem mit seinen rund 100 000 jüdischen Einwohnern). Die Angriffe arabischer Freischärler auf jüdische Einrichtungen, Siedlungen, Wohnviertel und Geschäfte, jüdische Reisende, Busse, Autos und Konvois wurde von Beginn an jedoch mit Gegengewalt beantwortet. Im Januar 1948 sprengte Irgun das Gebäude der Stadtverwaltung (Serail) von Jaffa in die Luft. Das allgemeine Klima von Gewalt, Terror und Einschüchterung, zu dem gezielte Angriffe jüdischer ‚Extremisten' innerhalb wie außerhalb der Hagana auf arabische Siedlungen, Dörfer und Beduinenlager einiges beitrugen, wurde begleitet von Arbeitslosigkeit, Teuerung, Versorgungsmängeln und zunehmender Kriminalität. Schon in diesen ersten Monaten der Kämpfe flüchteten etwa 75 000 Araber - in ihrer Mehrheit Angehörige der bessergestellten Mittel- und Oberschicht aus den besonders umkämpften 'gemischten' Städten Haifa, Jaffa und Jerusalem, aber auch Bauern und Beduinen aus Dörfern um Jerusalem, um Baisan und der Küstenebene zwischen Tel Aviv und Hadera, wo Araber und Juden noch immer vergleichsweise nah beieinander wohnten - in ruhige Zonen im Berg- und Hügelland und in das benachbarte arabische Ausland, wo sie zunächst bei Freunden und Familie Unterschlupf fanden." (Krämer, S. 363/4) "Anfang Februar 1948 [...] erteilte Ben-Gurion dem Oberkommando der Hagana den Befehl, die arabischen Wohnviertel Jerusalems zu räumen und Juden in ihnen anzusiedeln. Nach dem Mord an einer Araberin fuhr ein Lastwagen der Hagana durch die Straßen des Vororts Talbiya, der seine arabischen Bewohner über Lautsprecher aufforderte zu gehen, 'andernfalls sie selbst samt ihrem Besitz in die Luft gesprengt würden'. Sie flohen tatsächlich, bald gefolgt von den Bewohnern anderer arabischer Viertel und Dörfer in der näheren Umgebung Jerusalems. Gezielte Einschüchterung, Terror und Vertreibung lösten auch in der Küstenebene eine Fluchtbewegung aus. In Caesarea, dessen arabische und jüdische Einwohner in gutem Einvernehmen gelebt hatten, führte die Hagana am 5. Februar 1948 die erste systematisch geplante Zerstörung einer ganzen arabischen Ortschaft durch. Sie blieb vorerst die Ausnahme. Die Flüchtlinge und Vertriebenen steckten diejenigen mit ihrer Angst vor jüdischen Angriffen an, bei denen sie unterkamen: Das 'Fluchtfieber' griff um sich." (Krämer, S. 364)
"Im Rahmen von 'Plan D' drang sie [die Hagana] trotz heftiger Gegenwehr in die den Juden von der UNO zugeteilten, militärisch aber noch nicht besetzten Zonen vor und versuchter darüber hinaus, die sonstigen Gebiete unter Kontrolle zu bekommen, in denen Juden in größerer Zahl siedelten. Ziel war ein zusammenhängendes jüdisches Territorium, das gegen den Angriff der arabischen Staaten verteidigt werden konnte, der mit dem Erlöschen des britischen Mandats am 15. Mai erwartet wurde. 'Plan D' sah die 'Befriedung' der angegebenen Zonen vor, was nichts anderes bedeutete als die Kapitulation des Gegners oder seine Vertreibung sowie die Zerstörung seiner Häuser, Dörfer, Wohn- und Geschäftsviertel. Die angestrebte 'Räumung' oder 'Säuberung' des jüdischen Bodens setzte jedoch nicht nur die Vertreibung oder Liquidierung derjenigen arabischen Bewohner voraus, die sich dem jüdischen Herrschaftsanspruch widersetzten, ihn behinderten oder sich 'provozierend' verhielten, sondern auch jener, die in strategisch wichtigen Zonen lebten, etwa in der Nähe der angestrebten Grenzlinien oder zentraler Verbindungswege innerhalb des jüdischen Territoriums. Ein genereller, flächendeckender arabischer Massenexodus wurde zu diesem Zeitpunkt, wie es scheint, weder von der jüdischen noch von der arabischen Führung angestrebt oder erwartet.
An die Stelle der Guerillakämpfe der ersten Phase trat im April die 'konventionelle' Kriegführung, mit der die Hagana sich an die systematische Eroberung der vorgezeichneten Orte und Gebiete machte. Gekämpft wurde somit vorrangig um Land, gleichgültig, ob sich dessen Bewohner gewaltsam zur Wehr setzten oder nicht. Die jüdischen Truppen waren nicht nur hoch motiviert; sie konnten auf eine überlegene Kampfmoral, Ausbildung und Ausrüstung zurückgreifen, die durch Waffenlieferungen aus der Tschechoslowakei erneuert und verbessert wurde, welche mit sowjetischer Billigung erfolgten. Zwar verfügte die Arabische Befreiungsarmee über schwere Waffen, Artillerie und einige Panzer, doch war sie der Gegenseite nicht gewachsen." (Krämer, S. 365/6)
"[...] zumindest Irgun mit seinen 2000 - 3000 Mitgliedern war keine bloße Splittergruppe. Sie legten Bomben an stark besuchten öffentlichen Plätzen, in arabischen Märkten, Cafés, Restaurants und Schulen. Bei einem Bombenanschlag auf arabische Arbeiter in der Ölraffinerie von Haifa kamen Ende Dezember 1947 sechs Menschen ums Leben, 42 wurden verwundet. Die aufgebrachte Menge brachte daraufhin 41 jüdische Arbeiter um und verletzte weitere 48. Aus Rache massakrierten als Araber verkleidete Hagana-Mitglieder zwei Tage später in dem bei Haifa gelegenen Dorf Balad al-Shaikh etwa 60 arabische Männer, Frauen und Kinder und sprengten Dutzende von Häusern in die Luft.
[...] Am 9. April 1948 kam es zu dem Massaker von Dair Yasin [...]. Das an der Straße nach Jerusalem gelegene Dorf Dair Yasin, das mit jüdischen Führern in Jerusalem ein Abkommen über gegenseitige Zurückhaltung geschlossen hatte, wurde in einer gemeinsamen Aktion von Lehi- und Irgun-Kämpfern überfallen, die rund 250 Männer, Frauen und Kinder ermordeten, die zum Teil verstümmelten Leichname in Brunnen warfen und die Überlebenden vertrieben. Während sich die zivile und militärische Führung des Yishuv [alteingesessene jüdische Bevölkerung] bei König Abdallah (!) für die Gräueltat entschuldigte, verbreitete die Irgun ihre Tat über Lautsprecher in arabischen Wohngebieten. Die Rache folgte am 13. April, als Araber bei einem Überfall auf einen medizinischen Hilfskonvoi bei Jesusalem 70 jüdische Ärzte und Krankenschwestern ermordeten.
Bereits zu einem früheren Zeitpunkt hatten sich führende Zionisten dafür ausgesprochen, Araber zur Flucht zu 'ermutigen' (indem sie ihnen beispielsweise durch die Zerstörung von Häusern, Gärten und Olivenhainen 'eine Lektion erteilten') und an einer späteren Rückkehr zu hindern. Nicht nur Lehi und Irgun, sondern auch die Hagana setzten den Massenmord von Dair Yasin, dem weitere Fälle von Mord und Vertreibung folgten, systematisch als Mittel der Einschüchterung ein. Sie verfehlten ihre Wirkung nicht. Die Entscheidung, zu bleiben und am ‚heiligen Boden' Palästinas festzuhalten, wie es die arabische Widerstands- und Nationalbewegung seit den 1930er Jahren gepredigt hatte [...], oder in der Hoffnung auf baldige Rückkehr zu fliehen, lag in den meisten Fällen in der Hand lokaler Führungspersönlichkeiten, Familien und Gemeinschaften. Die im Ausland befindlichen Führer vom Mufti bis zum Hohen Arabischen Rat konnten hier wenig bewirken. Das zeigte sich, als die Hagana Mitte April Tiberias, die erste 'gemischte' Stadt, deren arabische und jüdische Notabeln im März ein Stillhalteabkommen geschlossen hatten, eroberte, worauf die arabischen Einwohner flüchteten. Ungleich dramatischer verlief die Entwicklung in Haifa mit seinen ursprünglich rund 70 000 arabischen Einwohnern, von denen seit Dezember 1947 jedoch schon 20 000 - 30 000 geflohen waren. Der Rest folgte, nachdem ihre zivilen und militärischen Führer am 21./22. April, noch bevor die Stadt von der Hagana eingenommen war, ihre Posten verließen. Mitte Mai lebten in Haifa noch 3000 - 4000 Araber unter erbärmlichen Umständen. Am 25. April 1948 folgte der Angriff auf das fast rein arabische Jaffa, das die Irgun, die hier die Initiative übernahm, als 'Krebsgeschwür' im jüdischen Gemeinwesen und 'Geißel' des benachbarten Tel Aviv sah, in dem sie ihre Hochburg hatte. Der Angriff zielte darauf ab, eine Massenpanik und in deren Folge eine Massenflucht auszulösen. Beides gelang, zumal die Hagana zur gleichen Zeit arabische Dörfer der Umgebung 'säuberte', obgleich die britische Garnison zugunsten der Araber intervenierte. Als erstes flohen, nachdem sich die lokalen arabischen Milizen heftig zur Wehr gesetzt hatten, wiederum die lokalen Führer. Von ursprünglich 50 000 - 60 000 Einwohnern waren Mitte Mai noch 4000 - 5000 übrig. David Ben-Gurion sah in dem arabischen Massenexodus den Beweis dafür, 'welches Volk mit festen Banden an dieses Land gebunden ist' - nicht nur Gott und die Geschichte wiesen die Juden als (einzig) legitime Herren in Eretz Israel aus. Die Araber disqualifizierten sich selbst.
Zwischen Anfang April und Mitte Mai hatte die Hagana unter Beteiligung von Irgun und Lehi 'Plan D' umgesetzt und über die im UNO-Teilungsplan vorgesehenen Zonen hinaus Land auf arabischem Gebiet einschließlich der Städte Jaffa, Haifa, Akko, Safed, Tiberias und Bet Shean erobert. Bis Mitte Mai - d. h. vor Ausbruch des ersten arabisch-israelischen Kriegs - waren bereits 300 000 Araber aus diesem Gebiet geflüchtet, knapp die Hälfte der insgesamt rund 700 000, die zwischen 1947 und 1949 aus Palästina flohen oder vertrieben wurden. In ihrer Mehrheit waren es Städter, die den größten Teil der arabischen Elite stellten." (Krämer, S. 366 - 368)

Der erste arabisch-israelische Krieg

Die Arabische Liga hatte seit April Vorbereitungen für ein militärisches Eingreifen getroffen. In der Nacht zum 15. Mai rückten arabische Truppen aus Ägypten, Jordanien, Syrien, Libanon und Irak, unterstützt von kleinen saudischen und jemenitischen Kontingenten, gegen den jüdischen Staat vor; die ägyptische Luftwaffe warf Bomben über Tel Aviv und anderen Städten im israelisch kontrollierten Gebiet ab. Entgegen dem zuvor erarbeiteten Schlachtplan operierten die nationalen Kontingente weitgehend unabhängig voneinander; das militärische Hauptquartier unter dem irakischen General Nur al-Din Mahmud war seinen Namen nicht wert; König Abdallah gelang es nicht, sich als Oberkommandierender der arabischen Streitmacht durchzusetzen.
Betrachtet man die objektiven Daten von der Truppenstärke bis zur Ausrüstung, so kämpfte in dem nun folgenden Krieg nicht, wie häufig gesagt wurde, David gegen Goliath, der tapfere junge Held gegen den überlegen gerüsteten Riesen. Es kämpfte allenfalls David gegen andere Davids, von denen einige entschieden kleiner und schwächer waren als er selbst: [...] die Hagana (seit Mai 1948 Israelische Verteidigungsarmee, tzva hagana le'umit, kurz: Tzahal) hatte in Heer, Luftwaffe und Marine etwa 35 000 militärisch geschulte Männer und Frauen unter Waffen, zu denen viele Freiwillige kamen; Mitte Juli zählte die israelische Armee 65 000 Männer und Frauen, im Dezember 1948 mehr als 96 000. Sie verfügte über eine gut funktionierende Logistik und Infrastruktur, ein ausgebautes Nachrichtenwesen und moderne Ausrüstung. Ihr standen auf der arabischen Seite Staaten gegenüber, die sich gerade von der kolonialen Beherrschung befreit hatten, selbst dort aber, wo sie nominell schon seit längerem unabhängig waren, tatsächlich militär- und außenpolitisch eng an die Kolonialmacht gebunden waren". (Krämer, S. 368/9)
"Die fünf beteiligten Staaten schickten nicht ihre gesamten Streitkräfte nach Palästina, sondern lediglich einen Bruchteil: Gemeinsam mobilisierten sie weniger als 25 000 Mann - selbst nach Mannstärke war, was oft übersehen wird, die arabische Streitmacht also kleiner als die jüdische. Die Soldaten wurden überwiegend schlecht ausgebildet und bewaffnet [und] unkoordiniert und ohne funktionierendes Versorgungs- und Nachschubsystem ins Feld geschickt. Ägypten entsandte im Mai 1948 nicht ganz 10 000 Mann, Jordanien 8000, Irak 4000 - 6000, Syrien zwischen 1500 und 2500, Libanon weniger als 1000. Die Arabische Befreiungsarmee zählte zu diesem Zeitpunkt etwa 4000 Irreguläre. Zwar wuchs im Verlauf des Kriegs auch auf arabischer Seite die Zahl der regulären Soldaten erheblich; an Motivation, Ausbildung und Ausrüstung konnten sie sich mit der israelischen Armee jedoch nicht messen. [...] An der innerarabischen Konkurrenz scheiterte jeder Versuch der koordinierten Aktion." (Krämer, S. 369/370)
Am 11. Juni trat auf Vermittlung der UN ein Waffenstillstand in Kraft. "Die Israelis nutzten die Waffenruhe zur weiteren Aufrüstung, sodass sie in die zweite Kriegsphase vom 8. Juli, als die Ägypter einen Tag vor dessen geplantem Ende den Waffenstillstand brachen, bis zum 18. Juli noch stärker gehen konnten als in die erste. [...] Weitere 100 000 Araber ergriffen in diesen Tagen die Flucht [...]
Der unbefristete Waffenstillstand vom 18. Juli brachte nur eine geringfügige Beruhigung der Lage. Die arabische Seite war und blieb uneinig. Um Abdallahs befürchteten Zugriff auf das 'arabische Palästina' zu verhindern, beschloss die Arabische Liga auf ägyptischen Druck hin am 6. September 1948, eine All-Palästina-Regierung (All-Palestine Government, hukumat 'umum filastin) mit Sitz im ägyptisch besetzten Gaza einzurichten. Ohne finanzielle und militärische Mittel und ohne funktionierenden Apparat war ihr Anspruch, ganz Palästina zu regieren, zum Scheitern verurteilt. [...]
Währenddessen baute Israel die zivile Infrastruktur des neuen Staates aus: Im Juli führte es eine eigene Währung ein, druckte Briefmarken (beide noch ohne offiziellen Staatsnamen) und eröffnete im September einen Obersten Gerichtshof. Mit der Aufhebung aller Einwanderungsbeschränkungen schwoll die Zahl der Immigranten in kurzer Zeit an, was den Druck auf den eben gegründeten Staat enorm erhöhte - und die Kompromissbereitschaft gegenüber dem arabischen Gegner entsprechend senkte. Im gleichen Zuge wurde eine Strategie entwickelt, verlassene arabische Dörfer, Häuser und Felder jüdischen Neueinwanderern zuzuteilen, was einerseits den sicherheitspolitischen Vorzug hatte, eine potenzielle 'Fünfte Kolonne' auszuschalten bzw. gar nicht erst entstehen zu lassen, und andererseits den Neuankömmlingen 'Lebensraum' zu verschaffen. Als der schwedische UNO-Vermittler Graf Folke Bernadotte mit amerikanischer und britischer Rückendeckung energisch ein Recht auf Rückkehr für die arabischen Flüchtlinge, die Internationalisierung Jerusalems und überdies territoriale Konzessionen forderte, [...] wurde er am 18. September 1948 von Lehi ermordet.
Am 15. Oktober 1948 brachen die Israelis den Waffenstillstand und rückten in den ägyptisch besetzten Negev vor, letzteres nicht so sehr aus ökonomischen als vielmehr aus strategischen und historisch-biblischen Motiven [...]. In einer letzten und besonders blutigen Kampagne (Operation Hiram) eroberten sie Ende Oktober das von der Arabischen Befreiungsarmee gemeinsam mit syrischen und libanesischen Truppen verteidigte restliche Galiläa und mehr als ein Dutzend Dörfer im Süden Libanons. Weitere 100 000 - 150 000 Menschen wurden vertrieben oder flüchteten. Als am 31. Oktober ein weiterer Waffenstillstand in Kraft trat, hatte Israel 77 % des ehemaligen Mandatsgebiets eingenommen. Im Januar 1949 stieß die israelische Armee auf den Sinai vor, zog sich auf internationalen Druck hin aber wieder zurück. Der Waffenstillstand vom 7. Januar 1949 wurde von keiner Seite mehr gebrochen. Er eröffnete den jahrzehntelangen Zustand, in dem zwischen Israel und seinen Nachbarn 'weder Frieden noch Krieg' herrschte [...]." (Krämer, S. 371/2)
"Noch im November 1948 hatte die israelische Regierung eine Volkszählung durchgeführt, die ein Ergebnis von 782 000 Juden und 69 000 Arabern erbrachte. Bis Ende 1949 schwoll die jüdische Bevölkerung von 600 000 auf 1 Million an: In 18 Monaten wanderten 350 000 Menschen nach Israel ein. Der größere Teil kam nicht, wie vor und während des Zweiten Weltkriegs argumentiert worden war, aus Europa, sondern aus den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens, wo der erste arabisch-israelische Krieg und die Gründung Israels, begleitet von der Flucht und Vertreibung der arabischen Palästinenser, dort, wo sie zuvor nicht bestanden hatte, eine - wiewohl ganz anders gestaltete - 'Judenfrage' geschaffen hatten." (Krämer, S. 374/5) Sprich: Juden, die bislang unbehelligt in Ländern des Nahen und Mittleren Ostens gelebt hatten, wurden dort nun zunehmend zur Zielscheibe der arabischen Bevölkerung von "Vergeltungs"-Aktionen für das, was Arabern in Palästina von Juden angetan wurde. Als Folge setzte ein Exodus von Juden aus diesen arabischen Ländern Richtung Israel ein.
"Mitte Juni 1948 beschloss die israelische Regierung gegen erheblichen internationalen Druck, eine Rückkehr der [arabischen] Flüchtlinge mit allen Mitteln zu verhindern. Die Entscheidung fiel im Krieg, die Lage war unübersichtlich, der eigene Sieg nicht mit Sicherheit vorauszusagen - und in Europa waren im Gefolge des Kriegs ebenfalls gewaltige Bevölkerungsbewegungen in Gang gekommen, die allermeisten unter Zwang und Gewalt: Lieber den Arabern Unrecht zufügen, als selbst eine Katastrophe zu erleiden, war eine Folgerung." (Krämer, S. 375)

Der Waffenstillstand vom 7. Januar 1949

"Nach Unterzeichnung des letzten Waffenstillstandsabkommens im Juli 1949 waren über 400 arabische Dörfer verlassen und in ihrer Mehrheit zerstört und unbewohnbar gemacht - zumeist nicht während des Kriegs selbst, sondern durch gezielte Aktionen von Armee und jüdischen Siedlern. Ihr Land und Besitz wurden konfisziert, an jüdische Zuwanderer verteilt, den früheren Einwohnern selbst die Rückkehr verwehrt. […]
Von den 1,4 Millionen arabischen Einwohnern, die zuletzt im Mandatsgebiet Palästina lebten, war zwischen Dezember 1947 und Frühjahr 1949 etwa die Hälfte, d. h. 700 000 - 760 000 Personen, geflohen oder vertrieben worden." (Krämer, S. 375/6)
Soweit die trockenen Fakten. Den Palästinensern war bitterstes Unrecht widerfahren. Und die Welt hat zugesehen. Bis heute. Den Palästinensern wurde ihr Land, ihre Heimat geraubt, ihr Besitztum entschädigungslos weggenommen - mit Gewalt, mit dem "Recht" des Stärkeren.
Den Juden war bitterstes Unrecht widerfahren. Sie wurden Jahrhunderte lang in christlichen europäischen Ländern diskriminiert, drangsaliert, ihres Hab und Gutes beraubt, sie wurden gequält und verfolgt und zuletzt ging Hitler zu ihrer physischen Vernichtung, ihrer Ausrottung über. Vier bis sechs Millionen Juden ermordet - von Wahnsinnigen. Und die Welt hat zugesehen. Die Mächtigen dieser Zeit haben es alle gewusst: Roosevelt, Churchill, der Papst... und sie haben alle zugesehen.
Aber wie stellte Gudrun Krämer oben nüchtern fest (S. 360): "Es konnte nicht sein, dass die Araber Palästinas die Schuld der Europäer beglichen, die 'ihre eigenen' Juden erst diskriminiert, dann verfolgt und schließlich auszurotten versucht hatten, um ihnen dann mit großer Geste ein Land zu schenken, das ihnen nicht gehörte. Arabische Politiker erkannten sehr wohl das Leid an, das den europäischen Juden zufügt worden war - aber von Europäern, nicht von ihnen. Unrecht an den einen konnte nicht mit Unrecht an den anderen gesühnt werden."

Israel behauptet sich

Wohl wahr, was aber hätte man den Juden empfehlen sollen - und - wer hätte sich anmaßen können, den Juden in ihrer damaligen Lage etwas zu raten, wer hätte die moralische Integrität besessen, solches wagen zu dürfen - nach all dem, was geschehen war?
Zurück in ihre kriegszerstörten "Heimat"-Länder, in denen gerade erst die Krematoriumsöfen in den Vernichtungslagern am Erkalten waren? Sich wieder auf Gnade und Ungnade in die Hände jener Gesellschaften zurückbegeben, die angeblich von nichts gewusst haben, aber schweigend zugesehen haben, als man die Ausrottung der Juden betrieb?
"Im Lande Israel entstand das jüdische Volk. Hier prägte sich sein geistiges, religiöses und politisches Wesen. Hier lebte es frei und unabhängig, hier schuf es eine nationale und universelle Kultur und schenkte der Welt das Ewige Buch der Bücher.
Durch Gewalt vertrieben, blieb das jüdische Volk auch in der Verbannung seiner Heimat in Treue verbunden. Nie wich seine Hoffnung. Nie verstummte sein Gebet um Heimkehr und Freiheit.
Beseelt von der Kraft der Geschichte und Überlieferung, suchten Juden aller Generationen in ihrem alten Lande wieder Fuß zu fassen. Im Laufe der letzten Jahrzehnte kamen sie in großen Scharen. Pioniere, Verteidiger und Einwanderer, die trotz der Blockade den Weg in das Land unternahmen, erweckten Einöden zur Blüte, belebten aufs Neue die hebräische Sprache, bauten Dörfer und Städte und errichteten eine stets wachsende Gemeinschaft mit eigener Wirtschaft und Kultur, die nach Frieden strebte, aber sich auch zu schützen wusste, die allen im Lande die Segnungen des Fortschritts brachte und sich vollkommene Unabhängigkeit zum Ziel setzte."24 - Das war die Sichtweise der Gründerväter und -mütter des Staates Israel, schriftlich niedergelegt in der Unabhängigkeitserklärung vom 14. Mai 1948. Und als die Araber darangingen, ihre Drohung wahr zu machen, die Juden ins Meer zu treiben, war die Lage der jüdischen Community verzweifelt: Mit dem Meer im Rücken und mit kaum jemand an ihrer Seite begann für die Juden ein nackter Überlebenskampf mit höchst ungewissem Ausgang.
Wie dieser Kampf dann bis zum Juli 1949 tatsächlich ausging, konnten wir bereits weiter oben nachlesen. Der Ausgang zeigt, dass ein Verzweiflungskampf nicht notwendigerweise auch ein kopfloser Kampf sein muss - ganz im Gegenteil: Die arabische Seite lehnte einen jüdischen Staat rundheraus ab, was heißt, dass sie sich zugleich weigerte, einen palästinensischen Staat zu gründen. Der jüdischen Seite wiederum war klar, dass der Teilungsplan der UN-Resolution 181 II ein jüdisches Staatsgebiet vorsah, das so nicht lebensfähig würde sein können und - bei weiteren Attacken der arabischen Seite - auch schlecht verteidigbar wäre. So war es bei den ausbrechenden Kämpfen das strategische Ziel der israelischen Regierung, ein Staatsgebiet zu erobern, das sowohl auf Dauer überlebensfähig als auch gut verteidigbar sein würde. Zusätzlich spielte bereits damals schon das biblische Staatsgebiet von Eretz Israel25 eine ganz grundlegende Rolle als stete Zielvorstellung für die anzustrebende Staatsfläche des modernen Israel.

Der Sechs-Tage-Krieg von 1967 - Eretz Israel wird Wirklichkeit

Als ein Ergebnis des ersten arabisch-israelischen Krieges 1948/1949 gelang es Israel, die im UN-Teilungsplan getrennten drei israelischen Territorien zu einer überlebens- und verteidigungsfähigen Einheit zu verbinden, die Grenzziehung gegenüber Ägypten auf der Sinai-Halbinsel zu Israels Gunsten zu begradigen, den Westen Jerusalems zu besetzen und den arabischen Gaza-Streifen sowie die Fläche des palästinensischen Westjordanlandes zugunsten Israels zu verkleinern. Dies war ein erster wichtiger Schritt auf dem Weg zu Eretz Israel.
Im Ergebnis des Sechs-Tage-Krieges von 1967 gelang es Israel faktisch, die Kontrolle über das Gebiet Palästinas zu erlangen, welches dem biblischen Eretz Israel entsprach, wenngleich (zunächst) nicht alle im Krieg besetzten Gebiete dem israelischen Staatsgebiet einverleibt wurden. So wurden die Golan-Höhen annektiert, das Westjordanland und der Gaza-Streifen blieben besetztes Gebiet mit einer überwiegend arabischen Bevölkerung unter israelischer Kontrolle. Betrachtet man sich die Karte "Israel" auf der Seite 3 des "bebilderten Reiseführers" "Das ist Israel" von Sylvia Mann, erschienen 1984 im Palphot-Verlag, so ist das Staatsgebiet Israels ohne jedes Vertun das Land, welches das Ergebnis des Sechs-Tage-Kriegs war: Das Land von den Golan-Höhen bis nach Eilat und von Rafah bis zum Jordan. Die Begriffe "Gaza-Streifen" und "Westjordanland" tauchen in dieser Karte nicht auf, die Palästinenser, die dort leben, haben sich entweder in Luft aufgelöst oder sind stillschweigend israelische Staatsbürger geworden.

Jitzchak Rabin und die Zwei-Staaten-Lösung

Und wenn die Palästinenser nicht mehr auftauchen, kann es auch keinen Nahost-Konflikt geben, der zu lösen wäre - z. B. dadurch, dass Israel den Palästinensern einen eigenen Staat auf israelischem Boden zugesteht. Das Westjordanland ist aus Sicht der israelischen Regierung integraler Bestandteil von Eretz Israel und steht deshalb auch nicht für einen unabhängigen Palästinenserstaat zur Verfügung. Tatsächlich wird das Westjordanland durch die Tätigkeit ultraorthodoxer jüdischer Siedler israelitisiert und die dort heimischen Palästinenser werden Stück für Stück ihres Landes beraubt. Wobei dem rechten israelischen Premier Netanjahu im Verein mit seinen ultrareligiösen Koalitionsparteien die Verwandlung palästinensischen Bodens in jüdisches Eigentum gar nicht schnell genug gehen kann. Netanjahu würde die Enteignung und Entrechtung der Palästinenser gern beschleunigen, jedoch steht ihm dabei das Oberste Gericht Israels im Weg, das doch immerhin auch für die Rechte der unter Besatzungsrecht lebenden Palästinenser zuständig ist und darüber wacht, dass die Verfassung Israels eingehalten wird. Netanjahu möchte, dass Gesetze der Knesset durch das Oberste Gericht nicht mehr kassiert werden können; dadurch wäre der völligen Entrechtung und Enteignung der Palästinenser Tür und Tor geöffnet und der Annexion des Westjordanlandes durch Israel würde nichts mehr im Wege stehen. Es fehlte dann nur noch irgendeine palästinensische Terrorattacke à la Hamas im Westjordanland, um der israelischen Regierung den Vorwand zu liefern, das Westjordanland ein für allemal dem israelischen Staatsgebiet einzuverleiben.
Israelische Politiker, welche die Schaffung eines Palästinenserstaates auf dem Gebiet von Eretz Israel (also beispielsweise im Westjordanland) als eine realistische Option betrachtet haben, bezahlten diesen Versuch eines auch nur annähernd gerechten Ausgleichs zwischen den Palästinensern und den Juden mit ihrem Leben: Jitzchak Rabin, Israels Ministerpräsident, der mit Yassir Arafat im Jahr 1995 ein Abkommen über die Autonomie des Westjordanlandes ausgehandelt hatte, wurde am 4. Nov. 1995 von einem ultra-rechten Israeli ermordet. Wenn heute (am 20.02.2024) im Gefolge des Hamas-Massakers vom 7. Oktober 2023 wieder auf internationaler Ebene die Forderung nach der Schaffung eines unabhängigen Palästinenserstaates laut wird, so klingt das zunächst ganz vernünftig, hat aber mit den tatsächlichen politischen Realitäten wenig zu tun.
Netanjahu lehnt die Schaffung eines Palästinenserstaates im Westjordanland aufgrund seiner persönlichen Überzeugungen ab. Netanjahu ist ein Rechter, der auch nicht einen Quadratzentimeter von Eretz Israel preisgeben würde. Aber selbst wenn er einer Zwei-Staatenlösung zustimmen würde, würde damit seine Koalitionsregierung mit den ultrareligiösen Parteien platzen und seiner politischen Karriere ein jähes Ende bereiten. Sehr wahrscheinlich aber würde er dem Attentat eines ultrarechten Siedlers zum Opfer fallen - wie jeder andere israelische Politiker, für den eine Zweistaatenlösung eine Option wäre.

Wenn keine Zwei-Staaten-Lösung - was dann? Realitäten in Israel

Wenn also eine Zweistaatenlösung politisch in Israel auch nicht den Hauch einer Chance hat - was dann? Ist dann der Nahost-Konflikt tatsächlich unlösbar? Schließt das vergiftete Verhältnis zwischen Arabern und Juden eine nachhaltige Lösung des Problems aus? Blicken wir dafür in einige Internet-Artikel, um uns selbst ein Bild machen zu können: "Die Kritik des Zionismus richtete sich im Kern dagegen, dass er sich das Konzept des ethnischen, auf Exklusion gegründeten Nationalstaats zu eigen gemacht hatte und damit tragischerweise gerade jener Staatsform, in deren Namen das schlimmste Unheil über die Juden gebracht worden war. [...] Die Kritik war nicht nur moralisch motiviert; sie bezweifelte auch, dass ein auf die Verdrängung der arabischen Bevölkerung gebautes zionistisches Israel die versprochene sichere Heimstätte für die verfolgten Juden sein könne. Im Gegenteil würde es seine Sicherheit durch 'periodische Kriegsführung' (Isaak Deutscher), heute 'Rasenmähen' genannt, immer neu herzustellen haben. Es musste mit einem Widerstand der Enteigneten und einer Vergeltungsdynamik gerechnet werden, die, so warnte die israelische antizionistische Organisation Matzpen 1967, 'uns in eine Nation von Mördern und Mordopfern verwandeln wird'."26
"Amira Hass, die kämpferische, engagierte und international ausgezeichnete Korrespondentin der linken israelischen Tageszeitung 'Ha'aretz', wohnt seit 13 Jahren in den besetzten palästinensischen Gebieten, zurzeit in Ramallah in der Westbank. In ihrem jüngsten Buch hat sie von Februar 2001 bis Juni 2006 Tagebuchnotizen [...] gesammelt. Im Mittelpunkt stehen Israels Besatzung und die Abriegelung der palästinensischen Gebiete. Deren Auswirkungen schildert die Autorin anhand einer Vielzahl von Begebenheiten und individuellen Schicksalen - Mosaiksteinchen des palästinensischen Alltags.
Für Erwachsene und Kinder aus Westbank und Gazastreifen bedeutet das: regelmäßige Ausgangssperren, Invasionen, Bombardierungen, Belagerungen und mitzuerleben, wie Menschen verwundet oder getötet werden. Kinderrechte spielen dabei keine Rolle - im Gegenteil. Das israelische Militärrecht erlaubt beispielsweise, bereits vierzehnjährige Palästinenser zu Gefängnisstrafen zu verurteilen. Amira Hass berichtet von einem palästinensischen Jungen, '[...] der von Soldaten durch einen Schuss ins Bein verletzt und zur Operation in ein israelisches Krankenhaus gebracht worden war. Die Militärpolizei bewachte ihn und bestand darauf, ihn mit stählernen Hand- und Fußfesseln zu sichern.' Noch militanter als Armeeangehörige gehen manche jüdischen Siedler gegen palästinensische Kinder vor. Im Süden Hebrons griffen maskierte, englisch und hebräisch sprechende Personen wiederholt Kinder auf dem Schulweg mit Knüppeln und Steinschleudern an. Als Erwachsene einer Friedensgruppe die Kinder begleiteten, handelten sie sich gebrochene Rippen und Gliedmaßen ein. [...]
Wie sehr sie Kinder traumatisieren und Hass auf Israelis schüren, lässt sich leicht vorstellen. Kinderpsychologen haben herausgefunden, dass noch weit mehr Rassismus und Vorurteile produziert werden, wenn Kinder mit ansehen müssen, wie ihre Eltern gedemütigt werden. Die Autorin berichtet von einem Jungen, der dabei war, als sein Vater - ein leitender Angestellter des palästinensischen Planungsministeriums - irrtümlich als Terrorist festgenommen wurde und achtzehn Tage in Haft blieb.
'Deine Aufgabe', sagte die Mutter dem kleinen Jungen, 'ist es, in die Schule zu gehen, fleißig zu lernen, erwachsen zu werden, Architektur zu studieren und Häuser zu bauen.' Das Kind klammerte sich an seine Mutter. 'Ich will nicht in die Schule', jammerte es. 'Denn wenn ich erwachsen werde und Häuser baue, machen die Juden sie wieder kaputt.'
Natürlich werden bei den kämpferischen Auseinandersetzungen auch Kinder getötet. Aus 'absichtlicher Gleichgültigkeit', wie Amira Hass es formuliert. Denn die israelische Armee untersucht solche Fälle in der Regel nicht und bestraft auch keinen Soldaten, der achtlos Kinder erschießt.
Unbeteiligte Opfer sind auch Kinder, die durch palästinensische Selbstmordattentäter getötet werden - besonders oft Arme und Einkommensschwache, die gezwungen sind, mit öffentlichen Bussen zu fahren. Eltern auf beiden Seiten versuchen darum zunehmend, ihre Kinder aus der Gefahrenzone fort zum Schulbesuch oder Studium ins Ausland zu bringen - wenn sie es sich leisten können."27
"Die Atmosphäre in Israel und Palästina ist von Attacken und Anschlägen auf Gotteshäuser und Gläubige vergiftet. Eine Gruppe religiöser Juden arbeitet für die Versöhnung. Sie klagen Rassismus an - egal, ob er von Juden oder Palästinensern kommt.
Eine Gruppe jüdischer Fußball-Hooligans musste im Mai 2016 die herbe Niederlage ihrer Mannschaft Betar Jerushalaim gegen einen arabischen Klub miterleben. Dafür wollten sie sich an der Muslima Nadwa Jaber und ihrer Freundin rächen. Die beiden Frauen saßen zusammen mit drei ihrer Töchter im Auto vor einer roten Ampel in Westjerusalem. Als die Jugendlichen ihre Kopftücher sahen, schrien sie: 'Hier sind Araber!' Sie traten gegen den Wagen, sprangen darauf, spuckten. Nadwa Jaber kann diesen Überfall nicht vergessen: ‚Ich stand unter riesigem Druck, wie in einem schlechten Film: Wie komme ich bloß raus hier? Das waren schreckliche Momente, denn diese Männer hätten alles mit mir machen können! Sie hätten uns und die Mädchen richtig verprügelt, wenn sie die Tür oder das Fenster hätten öffnen könnten. Denn sie waren so wütend und hatten keinerlei Mitleid mit uns.'
Nadwa Jaber war an jenem Tag mit zwei Töchtern, ihrer Freundin und deren Tochter in einem Einkaufszentrum in Jerusalem.
'Beim Fluchtversuch setzte ich mein Leben aufs Spiel, um ihnen zu entkommen. Ich stieß beim Fahren gegen parkende Autos und fuhr eine Strecke sogar gegen die Fahrtrichtung. Seitdem meide ich dieses Einkaufszentrum.'
Den Besuch [des berichtenden Journalisten] bei Nadwa Jaber hat Gadi Gvaryahu organisiert. Der national-religiöse jüdische Aktivist kämpft seit der Ermordung des israelischen Premierministers Yitzhak Rabin 1995 gegen Rassismus und Gewalt und für Toleranz unter religiösen Juden in Israel. Seine erste Aktion war die Gründung der Rabin-Synagoge 1997. Fünfmal im Jahr gedenkt man dort mit einem besonderen Gebet des ermordeten Premierministers.
'Dafür haben wir eine neue Fassung des Gebets ›Gott voller Barmherzigkeit‹ entworfen, die zur Erhöhung seiner Seele im Himmel beiträgt. Unsere Fassung wurde später sogar bei der staatlichen Gedenkveranstaltung übernommen.'
2007 gründete Gadi Gvaryahu den Verein 'Forum des 12. Heshvan' zur Stärkung der Toleranz unter religiös-zionistischen Juden. An diesem Tag im hebräischen Kalendermonat Heshvan wurde Rabin erschossen. Eine der ersten Aktionen des Vereins war die Beteiligung an einer Klage gegen zwei rechtsradikale Rabbiner, die ein theologisches Buch über die mögliche Tötung von Nichtjuden veröffentlicht hatten.
Angesichts einer Welle von Gewalttaten radikaler jüdischer Siedler gegen Muslime und Christen im Westjordanland und Israel gründete Gvaryahu 2011 das Forum 'Tag Meir', auf Deutsch 'leuchtendes Abzeichen', das Opfer von jüdischem Rassismus und Gewalt unterstützt. Der Bericht des Vereins vom Mai 2016 hält fest, dass alle zwei Monate ein christliches oder muslimisches Gotteshaus in Israel oder im Westjordanland durch jüdische Fanatiker geschändet wird.
[...] Nun sitzen wir beide in Nadwa Jabers Wohnzimmer im arabisch-muslimischen Dorf Abu Gosh, 10 Kilometer westlich von Jerusalem. Nadwa Jaber ist Lehrerin an der jüdisch-arabischen Schule des bi-nationalen Dorfes Neve Shalom. Nach dem Überfall wollte sie nie wieder nach Jerusalem fahren, obwohl eine Tochter dort die jüdisch-arabische Schule Yad Beyad besucht. Eine Woche nach dem Überfall brachte Gadi Gvaryahu rund 100 überwiegend jüdische Aktivisten ins arabische Dorf zu einer Solidaritätsveranstaltung mit Nadwa Jaber. 'In der Zeit nach dem Vorfall dachte ich, dass ich in der Neve Shalom-Blase lebe, wo ich unterrichte, und dass der Frieden nur eine Fantasie ist. Aber als ich die Aktivisten von ›Tag Meir‹ hier erlebte, habe ich meine Meinung geändert. Nun sagte ich: Es gibt noch Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben. Dieses Licht, das ich von ihnen bekam, hat mich stabilisiert und mir Kraft gegeben, meinen Weg des Dialogs fortzusetzen.'
Die Hilfe für Nadwa, ihre Freundin und die Töchter beschränkte sich nicht auf eine Kundgebung, betont Gadi Gvaryahu: 'Wir haben ihnen einen Rechtsanwalt zur Verfügung gestellt, der ihnen im Umgang mit den Behörden helfen soll. Sie gelten nach dem israelischen Gesetz als Terroropfer und haben entsprechende Rechte: eine begleitende Sozialarbeiterin, psychologische Beratung, eine finanzielle Entschädigung für den Schaden an ihrem Wagen und für seelische Schäden. Denn die meisten Terroropfer sind Juden. Wenn es dann einmal Araber sind, weiß kein Beamter, wie man mit ihnen umgehen soll.' [...]
Auf der Rückfahrt nach Jerusalem zieht Gadi Gvaryahu in einem koscheren Tankstellen-Imbiss Bilanz:
'Durch unseren Einsatz für arabische Opfer wurden diese zu Freunden. Es ist sehr rührend: Wenn wir Solidarität mit jüdischen Familien zeigen - denn wir unterscheiden nicht zwischen den Opfern - dann schließen sich manche arabische Freunde an, zum Beispiel nach der Ermordung von sechs jüdischen Religionsstudenten. Man neigt dazu, die Situation so darzustellen, als ob sich das Licht bei uns befindet und die Dunkelheit bei den Arabern. Ich sage: Das Licht und die Dunkelheit sind vermischt und wir müssen gemeinsam das Böse verurteilen und das Gute betonen.'"28

Wie könnte eine realistische Lösung des Nahost-Konflikts überhaupt aussehen?

Im Folgenden seien hier auch einige Stimmen aus dem Internet zitiert, die sich darüber Gedanken machen, wie eine realistische Lösung des Nahost-Konflikts überhaupt aussehen könnte:
"Sie sind beide in Jerusalem geboren. Noam Gerstein wuchs im Westteil der heiligen Stadt auf, Hadil Karawani im Osten. Die eine ist israelische Jüdin, die andere Palästinenserin. Beide spielten als Kinder auf dem gleichen Spielplatz, einem besonderen Spielplatz.
In dessen Zentrum befindet sich eine 'Golem' oder 'Monster' genannte Monumentalfigur. Es ist ein von der Künstlerin Niki de Saint Phalle gestalteter überdimensionierter Kopf mit drei roten Zungen, die als Rutschen dienen. Sind Noam und Hadil womöglich das eine oder andere Mal nebeneinander gerutscht? Sie wissen es nicht.
Denn kennengelernt haben sich die beiden erst als Mütter in Berlin. Noam und Hadil wurden Freunde, weit entfernt von ihrer Heimat. Von Deutschland aus blicken sie auf den Nahostkonflikt. Gibt es einen Ausweg aus der Gewalt? Kann es ein friedliches Mit- oder zumindest Nebeneinander geben? Hier erklären die Israelin und die Palästinenserin, was sich ändern muss.
Hadil Karawani ist Linguistin und Sprachphilosophin an der Universität Konstanz. Noam Gerstein ist Gründerin von Bina, einer internationalen Grundschule für Familien weltweit, die komplett digital funktioniert.
Wie kann die Gewalt zwischen Palästinensern und Israelis gestoppt werden?
HADIL KARAWANI: Die Gewalt muss ein Ende haben - auf beiden Seiten. Aber ich bin privilegiert. Ich weiß nicht, was es bedeutet, wenn einem alles geraubt wird. Deshalb kann ich den Menschen in Gaza nicht die Schuld für das geben, was passiert ist. Gaza ist seit 2005/6 abgeriegelt.
Es gibt kein sauberes Wasser, Strom steht nur vier Stunden am Tag zur Verfügung, die Grenzen sind geschlossen. Es gibt zudem Berichte, die nahelegen, dass die Hamas ihre Raketen auch aus Blindgängern herstellt, die Israel in früheren Kriegen abgefeuert hat. Wenn Israel aufhört zu bombardieren, wird es keine Raketen mehr geben.
NOAM GERSTEIN: Die soeben beendeten Kämpfe wirkten wie ein Krieg zwischen zwei verschiedenen Entitäten, die sich so lange bekämpfen, bis alle verzweifelt sind. Aber wenn wir uns wirklich in Richtung Frieden entwickeln wollen, müsste die Lösung ein neues Narrativ beinhalten: Wenn wir einander Leid antun, schaden wir uns immer gegenseitig. So betrachtet, ist eine gewaltsame 'Selbstverteidigung' unlogisch.
Welche Möglichkeiten gibt es, den Hass zu beenden?
HADIL KARAWANI: Die Lösung ist einfach. Jedes Kind versteht sie. Wenn du im gemeinsamen Geschwisterzimmer den Teil deines Bruders oder deiner Schwester okkupierst, hat dein Bruder oder deine Schwester gute Gründe, wütend zu sein. Wenn du deshalb geschlagen wirst, kannst du nicht einfach zurückschlagen und dann behaupten, es sei Selbstverteidigung.
Der von dir zu Unrecht beanspruchte Teil des Geschwisterzimmers muss zurückgegeben werden, und du musst dich bei deinem Bruder oder deiner Schwester entschuldigen. Dann heißt es, geduldig darauf warten, dass dir verziehen wird. Wenn alle das ernst meinen, wird es nicht lange dauern, bis es dazu kommt.
NOAM GERSTEIN: Ohne eine gemeinsame Identität sind wir dem Untergang geweiht. Wir können und müssen eine zusammenhängende Geschichte von uns erzählen, die die Herkunft beider Völker berücksichtigt. Daraus abgeleitet, können wir beginnen, gemeinsam eine respektvolle Gesellschaft für alle aufzubauen. In den Köpfen unserer Kinder ist die Sache klar: Wir stammen alle aus einer gemeinsamen Heimat - und sie haben Recht.
Was ist notwendig, damit Israelis und Palästinenser langfristig friedlich zusammenleben können?
HADIL KARAWANI: Grundlegende Menschenrechte und die Menschenwürde müssen respektiert werden. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Kein Mensch, egal welcher Religion oder einer sogenannten Rasse, ist einem anderen überlegen. Der jüdische Teil der Bevölkerung hat definitiv das Recht auf Schutz sowie religiöse und kulturelle Selbstbestimmung.
Aber weder das Recht auf Selbstbestimmung noch das Recht auf Schutz können zur Folge haben, dass die Rechte anderer eingeschränkt werden. Eine Lösung, die sicherlich viele zufriedenstellen würde: Die Blockade des Gazastreifens endet, das besetzte Westjordanland wird den Palästinensern zurückgegeben, einschließlich der jüdischen Siedlungen und Ostjerusalems.
Israel will eine solche Lösung nicht, es nimmt den ganzen 'Raum' ein und behält sich das Recht vor, sich zu verteidigen. Das Beste wäre daher wohl eine Einstaatenlösung mit gleichen Rechten und gleichem Schutz für Israelis und Palästinenser:innen.
NOAM GERSTEIN: Das 'heilige Land' ist eines mit verschiedenen Klassen, deren Rechte von der Religion und der sogenannten Rasse abhängen. Da die Besatzung beide Gesellschaften zerstört hat, die palästinensische wie die israelische, sind die Gräben sehr tief. Unsere Völker sind aber untrennbar miteinander verbunden, vor allem durch einen andauernden Bürgerkrieg. Wenn die internationale Gemeinschaft wirklich an einem Ende des Nahostkonflikts interessiert ist, lässt sie uns eine Lösung finden, die auf diesem Verständnis gründet."29

Die Ein-Staaten-Lösung und die aktuelle Situation

"Welche alternativen Optionen zur Lösung des Nahostkonfliktes gibt es?
Da viele die Realisierbarkeit der Zwei-Staaten-Lösung bezweifeln, wird auch über eine Ein-Staaten-Lösung nachgedacht. Beispielsweise hat der Philosoph Omri Boehm von der New School for Social Research in New York in seinem Buch 'Israel. Eine Utopie' als Alternative einen binationalen, gemeinsamen Staat skizziert. Diese Idee ist an sich nicht neu, sie war vor der Staatsgründung Israels auch schon von Zionisten angedacht worden: Diese Form einer Ein-Staat-Lösung umfasst nationale Selbstbestimmung und Autonomie für Juden wie Palästinenser, eine gemeinsame israelische Staatsbürgerschaft, Freizügigkeit und gleiche Rechte für alle.
Allerdings ist diese Perspektive nicht unbedingt realistischer als die Umsetzung der Zwei-Staaten-Lösung: Eine Ein-Staaten-Regelung mit gleichen Rechten für alle stehe im direkten Gegensatz zu Israels Selbstverständnis als jüdischer Staat, analysiert Muriel Asseburg, Senior Fellow der Stiftung Wissenschaft und Politik."30
Die heutige Realität ist eine diskriminierende Ein-Staaten-Regelung, "in der jüdische Israelis bessergestellt und privilegiert werden"31.
"Aktuelle Situation
Heute muss der in Oslo vereinbarte Ansatz, den Konflikt durch Verhandlungen zu befrieden, als gescheitert angesehen werden. Zwar sind in mehreren Verhandlungsrunden und durch inoffizielle Initiativen Blaupausen für eine Zweistaatenregelung und Lösungsansätze für alle Konfliktfelder ausgearbeitet worden. Aber eine Einigung wäre nur mit extrem hohen politischen Kosten durchzusetzen.
Denn die Zahl der jüdischen Siedlerinnen und Siedler im Westjordanland und Ostjerusalem ist mittlerweile auf 650.000 angestiegen. Das Gebiet ist von Siedlungsinfrastruktur durchzogen und zerstückelt. Durch die seit 2002 im Westjordanland errichteten Sperranlagen sind rund acht Prozent des Gebiets abgetrennt und de facto annektiert worden. In für Israel ideologisch oder strategisch bedeutsamen Gebieten, etwa in der Altstadt von Hebron, in Ost-Jerusalem und im Jordangraben, wird die palästinensische Bevölkerung zunehmend verdrängt. Der Lebensalltag im Westjordanland ist zudem zunehmend von Siedler- und Militärgewalt geprägt. Der Gazastreifen ist seit 2006 nahezu vollständig abgeriegelt, die lokale Wirtschaft dort weitgehend zum Erliegen gekommen.
Insgesamt sind Israel und die palästinensischen Gebiete heute durch eine komplexe 'Einstaatenrealität' geprägt. Das bedeutet, dass Israel die übergeordnete Kontrolle über Territorium, Land- und Seegrenzen (mit Ausnahme der Grenze zwischen Gazastreifen und Ägypten), Küstengewässer, Luftraum, elektromagnetische Sphäre und Ressourcenausbeutung hat. Die Palästinensische Autonomiebehörde hingegen ist in ihrer Zuständigkeit auf innere Ordnung und Selbstverwaltung beschränkt und von israelischen Genehmigungen und Transferleistungen abhängig.
Das palästinensische Territorium ist in voneinander isolierte Enklaven zerteilt, die Bewegungsfreiheit zwischen den einzelnen Gebieten durch die Besatzungsmacht stark eingeschränkt. Den Bewohner:innen im Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordanfluss kommen, abhängig von ihrer Staatsbürgerschaft, ihrer religiös-ethnischen Zugehörigkeit (jüdisch vs. arabisch) und ihrem Wohnort (Israel, [West-/Ost-]Jerusalem, A-, B-, C-Gebiete des Westjordanlandes oder Gazastreifen) unterschiedliche Rechte zu oder diese werden ihnen verwehrt.

Scheitert die Zweistaatenregelung?

Vor diesem Hintergrund ist die Situation auch seit Ende der Zweiten Intifada immer wieder in bewaffnete Auseinandersetzungen eskaliert, vor allem zwischen Israel und der Hamas, die seit Juni 2007 den Gazastreifen kontrolliert. 2021 griffen Auseinandersetzungen um die Zwangsräumung von Häusern im Jerusalemer Viertel Scheich Jarrah nicht nur auf den Gazastreifen über, sondern führten auch zu bewaffneten Konfrontationen zwischen jüdischen und palästinensischen Bürger:innen Israels.
Die israelische Regierungskoalition, die Ende Dezember 2022 ins Amt gekommen ist [Netanjahu], zielt offen auf eine dauerhafte Kontrolle des Westjordanlandes ab und verfolgt im gesamten Gebiet eine jüdische Vorherrschaft.
Die palästinensische Autonomiebehörde hält zwar bislang an einem Zweistaatenansatz fest, sie hat aber keine Hoffnung, diesen durch Verhandlungen mit Israel zu erreichen und setzt daher vor allem auf die internationale Gemeinschaft, unter anderem auf den internationalen Rechtsweg. Zudem ist die palästinensische Führung gespalten und ihre Legitimität so stark gesunken, so dass sie heute kaum in der Lage wäre, Kompromisse einzugehen, geschweige denn diese durchzusetzen.
Auf der Ebene der Bevölkerungen haben sich Israelis und Palästinenser:innen immer stärker von einer Zweistaatenregelung abgewandt. Diese hatte in den 2000er-Jahren und in der ersten Hälfte der 2010er-Jahre noch eine mehrheitliche Unterstützung in beiden Bevölkerungsgruppen. Heute liegt sie bei deutlich unter 50 Prozent. Dennoch: Sie bleibt (bislang) die Regelungsoption, die in beiden Bevölkerungen noch am meisten Zustimmung findet. Denn auch wenn vor allem jüngere Palästinenserinnen und Palästinenser immer stärker eine rechtliche, politische, soziale und kulturelle Gleichstellung in einem Staat fordern: Eine Mehrheit hat dieser Ansatz in der palästinensischen Gesellschaft nicht. Israelis lehnen ihn ganz überwiegend ab, weil eine Einstaatenregelung mit gleichen Rechten in direktem Gegensatz zu Israels Selbstverständnis als 'jüdischer und demokratischer' Staat steht. Während der israelisch-palästinensische Konflikt durchaus durch verschiedene Ansätze geregelt werden könnte, die sowohl die individuellen Rechte aller Bewohner zwischen Mittelmeer und Jordanfluss als auch kollektive Rechte garantieren könnten, ist derzeit keine Regelung absehbar. Die Zeichen stehen vielmehr auf Konflikteskalation.
Am 7. Oktober 2023 startet die radikal-islamistische Hamas einen Großangriff auf Israel."32

Gedanken zum Ausklang

Von allen Ratgebern im Nahost-Konflikt sind die religiös orientierten die schlechtesten, jene, die Alt-Israel in den Untergang geführt haben und die Israel ein weiteres Mal ins Verderben führen würden. Dies sei kurz erläutert.
"66 n. Chr. eröffneten die Zeloten, die 'Eiferer', welche religiösen mit politischem Fanatismus verbanden und für die gewaltsame Vertreibung der Römer und die Errichtung der Gottesherrschaft auf Erden kämpften, den bewaffneten Kampf gegen die Römer und damit begann der jüdisch-römische Krieg, der erst 74 n. Chr. mit dem Fall Masadas und damit der endgültigen Niederlage der Aufständischen enden sollte.
Als 70 n. Chr., dem Jahr, in dem Gottes Endgericht stattfinden sollte, endlich der Tempel, Gottes Wohnstatt in Jerusalem, brannte und in Schutt und Asche sank, betrachteten die Aufständischen dies als den entscheidenden Auslöser für Gottes Herabkunft; jetzt musste Gottes Endgericht beginnen. Josephus33 berichtet (S. 446): 'Schließlich wandten sie [die Römer] sich nach der noch unversehrten Halle des äußeren Tempelhofes, in die sich Frauen und Kinder aus dem Volk und ein zusammengewürfelter Haufen, insgesamt etwa 6000 Menschen, geflüchtet hatten. [...] Die Schuld an ihrem Untergang trug übrigens ein [aus der Sicht des Josephus] falscher Prophet, der an jenem Tage den Bewohnern der Stadt verkündet hatte, der Gott heiße sie zum Tempel hinaufsteigen, wo sie die Zeichen ihrer Rettung schauen würden. [...] So wurde das unglückliche Volk damals von Betrügern und angeblich vom Gott Gesandten überredet [...].'
Es waren keine 'Betrüger', die der leidenden Bevölkerung das Kommen ihres Gottes ankündigten, sondern - so wie Jesus 40 Jahre zuvor - Irrende, Menschen, die der essenischen Deutung der Propheten, den essenischen Vorhersagen und Berechnungen geglaubt hatten und die ihren Irrtum - zusammen mit Hunderttausenden - mit dem Leben bezahlten. Obwohl die eschatologische Richtung innerhalb der Bevölkerung stets nur eine Minderheit darstellte, riss sie in ihrem Weltuntergangswahn ganz Israel in den Abgrund. Dieser Wahn, dieser Glaube, das Kommen Jahwes und seines Reiches stehe unmittelbar auf der Tagesordnung, hielt noch bis 135 n. Chr. an, als ein letzter Versuch, die Niederkunft Gottes und seines Reiches auszulösen (Bar Kochba), scheiterte. Danach hatten die Römer das palästinische Judentum so platt gemacht, dass jedem Gedanken an den baldigen Anbruch des Reiches Gottes der Boden entzogen war, und es sollte lange, leidvolle 1813 Jahre dauern, bis es wieder zur Gründung eines Staates Israel kam.
Angesichts dieser geschichtlichen Entwicklung lässt sich die Ideologie der jüdischen Religion in drei Richtungen weiterspinnen:
Jahwe hält sein Volk immer noch für obersündig und gefällt sich in der Rolle eines Strafsadisten: Hat er das Nordreich Israel bereits durch die Assyrer auslöschen lassen, bekommen die Judäer durch die Babylonier die Hucke voll. Später schickt er den Juden die Römer auf den Hals und verurteilt sie danach zur Heimatlosigkeit. Nicht genug damit schickt er sie nun durch das niemals enden wollende Spalier der Christen, zwischen denen er die Juden unablässig Spießruten laufen lässt: Nachdem die Christen die Macht im Römischen Reich in Händen hielten, drangsalierten sie die Juden, wo immer es ging. Nach der Rückeroberung der Iberischen Halbinsel durch die Christen wurden sie von dort vertrieben. Im restlichen Europa kam es Jahrhunderte lang in regelmäßigen Abständen zu Pogromen gegen die Juden, wobei sich das zaristische Russland besonders hervortat. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurden die Juden entehrt, gedemütigt, entrechtet, beraubt und totgeschlagen - von wenigen Ausnahmen abgesehen. Schließlich beauftragte Jahwe im 20. Jahrhundert einen wahnsinnigen Katholiken, Adolf Hitler, mit der Ausrottung seines auserwählten Volkes (was Hitler, Gott zum Trotz, nicht gelang). Am Ende ihrer Kräfte fliehen die übrig gebliebenen Juden in ihr altes, angestammtes Heimatland Israel und schon wieder tönt es ihnen in den Ohren: Schmeißt sie raus! Treibt sie ins Meer... Wissen Sie, geehrte Leserin und geehrter Leser, wenn ich Jude wäre und das wäre mein Gott - der könnte mir mal im Mondschein begegnen... Will heißen: Es ist praktisch unvorstellbar, dass sich ein Gott wegen der 'Sünden' einiger seiner Schäfchen so zu seinem - noch dazu auserwählten - Volk verhielte. Wie habe ich einmal einen Juden stöhnen hören: Hätte er sich mal besser ein anderes Volk auserwählt...
Die zweite Richtung: Gott erwartet, dass sich nicht nur die große Mehrheit seines Volkes an seine Ge- und Verbote hält, sondern alle bis zur letzten jüdischen Maus. Jahwe als unglaublicher Narziss: Er möchte ausnahmslos von allen geliebt, von allen geehrt, von allen gelobhudelt werden - sonst tut er's nicht: Durch die Propheten kündigt er seinem Volk sein Kommen an; es ist 31 n. Chr., ein gewisser Joshua aus Kafarnaum lässt sich in vermeintlicher Erfüllung eines Jesaja-Textes für die vermeintlichen Verfehlungen seines sündigen Volkes kreuzigen - aber Jahwe pfeift ihm was; lieber würde er diesen Nazoräer am Kreuz verenden lassen, als Wort zu halten, denn: da war doch noch einer, der offenbar nicht weiß, wie man sich seinem Gott gegenüber zu benehmen hat... Es ist 70 n. Chr., über 6000 Frauen, Kinder, Greise sitzen im Vorhof seines Tempels und erwarten ihn - aber er pfeift ihnen was; lieber lässt er sie dort im Feuer umkommen, denn: da war doch noch einer, der offenbar nicht weiß, wie man sich seinem Gott gegenüber zu benehmen hat... Ein gewisser Paulus aus Tarsus gründet Gemeinden in ganz Kleinasien und versichert den Gläubigen: Gott ist im Kommen, wir alle werden sein Erscheinen erleben, wenn wir nur genügend viele Juden davon überzeugt haben, dass Jesus der Messias ist; aber Gott sitzt an seiner Rechenmaschine und stellt fest: Da fehlt doch noch ein Bekehrter an der vorher von mir festgelegten Zahl… und schon ist es wieder nichts mit Gottes versprochenem Kommen. Und so geht das fort und fort und auch heute gibt es orthodoxe Juden in Israel, die sagen: Wenn nur ein einziges Mal ausnahmslos alle Juden den Sabbat in der von Jahwe gebotenen Weise halten würden, dann würde der Jüngste Tag anbrechen, dann würde Gott kommen... Ich glaube nicht, dass ich mir solch eine narzisstische Mimose als Gott wünschen würde.
Die dritte Richtung: Alles, was wir Juden in den Verlauf der Geschichte unseres Volkes hineingedeutet haben, waren Hirngespinste. Leider haben wir in Palästina im permanenten Spannungsfeld von Großmächten gelebt, und was uns dort geschehen ist, waren nicht die Strafen eines Gottes, sondern das Pech eines kleinen Volkes, stets in das Machtgerangel irgendwelcher Herrscher zu geraten. Wir brauchen auch nicht unablässig auf das Kommen eines Gottes zu warten, den es gar nicht gibt und der uns demzufolge auch nicht aus dem Schlamassel ziehen kann.
[...]
Was das heutige Israel wohl am allerwenigsten braucht, sind Leute, die immer noch auf den Messias bzw. auf das Kommen Jahwes warten [und die - getreu den Bibeltexten - davon überzeugt sind, ihr Gott Jahwe verlange die Ausrottung nicht-jüdischer Völkerschaften in Eretz Israel (Araber)]. Und selbst wenn die Muslime der Verpflanzung der Al-Aqsa-Moschee, die auf dem Tempelberg steht, zustimmten und die orthodoxen Juden dort wieder einen Tempel erbauen würden - was wäre dadurch gewonnen? Sollte man dann etwa wieder die alten, blutigen Opferrituale von vor zweitausend Jahren wiederbeleben? Die alten Priestergeschlechter und deren alte Privilegien restaurieren? Was wäre dadurch gewonnen?"34 Extrem gefährlich wird wiederum der Islam für Israel insbesondere dann, wenn muslimische Fundamentalisten davon ausgehen, Gott, Allah, würde zur Ermordung 'der Ungläubigen' auffordern. Und in der Tat gibt es - wie wir oben bereits gesehen haben - viele Stellen im Koran, wo Allah (d. h. Mohamed!) zu Mord und Totschlag aufruft (so in den Suren (Versen) 2(192), 4(75 u. 77), 8(13), 9(5, 14, 26, 29, 30, 41, 73, 111 u. 123)). Und wenn Islamisten mittels vollbesetzter Passagiermaschinen das New Yorker World Trade Center dem Erdboden gleichmachen und damit über 3000 Menschen umbringen, dann strömen im Westjordanland die muslimischen Einwohner jubelnd auf die Straßen und feiern diese Massenmörderorgie ihrer islamischen Glaubensbrüder. Je mehr 'Ungläubige' und 'Ketzer' sterben, desto besser! "Die Menschen in Palästina - und zwar alle - wollen in Frieden leben, Familien gründen können, ein angemessenes Auskommen haben und in gutem Einvernehmen in einem demokratischen Gemeinwesen miteinander leben. Das war wohl auch eine Vision der zionistischen Gründerväter des Staates Israel und das ist das, worauf auch die palästinensische Bevölkerung ein natürliches Recht hat. Der Hass hat meines Erachtens seine Wurzeln in den Religionen; die Vernunft muss die Grundlage der Regierenden sein, die Fairness, die Gerechtigkeit, ja, die liebende Fürsorge für alle Bewohner des Landes. Es wird keine erstrebenswerte Zukunft für Israel ohne die Palästinenser geben und es wird auch keine erstrebenswerte Zukunft für die Palästinenser ohne Israel geben; entweder sie raufen sich zusammen oder sie werden auf Dauer leiden und unglücklich sein."35
Die verantwortlichen israelischen Politiker sollten sich täglich klarmachen, dass ihr Staat auf Ungerechtigkeit beruht, dass Israel im Laufe der neueren Geschichte viel Schuld gegenüber den Palästinensern auf sich geladen hat und dass sich die Machtverhältnisse auch einmal ändern könnten. Und dann? Kann es dann wieder zu Pogromen an Juden im "Gelobten Land" kommen? Werden dann wieder Juden außer Landes getrieben? Eine gruselige Vorstellung, die in den Gräueltaten der Hamas-Mordbuben ihren Schatten vorausgeworfen hat! Die Netanjahus sollten sich bewusst machen, dass sie die ganze Last der Verantwortung für die Zukunft ihrer (jüdischen) Kinder tragen und dass die Zukunft ihrer (jüdischen) Kinder von der Zukunft der palästinensischen Kinder abhängt - die einen können nicht ohne die anderen glücklich werden. Und die Bedingungen für alle Bewohnerinnen und Bewohner des Landes zu schaffen, deren es bedarf, um in Israel/Palästina glücklich werden zu können, das, das ist die ureigenste Aufgabe von Politikern!

Anmerkungen

1Finkelstein, Israel und Silberman, Neil A.: Keine Posaunen vor Jericho. Die archäologische Wahrheit über die Bibel. München: C. H. Beck, 20033, S. 123 (zit. als FuS)
2Fohrer, Georg: Geschichte der israelitischen Religion. Berlin: Walter de Gruyter, 1969, S. 24 (zit. als Fohrer)
3Nach: Soukup, Uwe: Ich bin nun mal Deutscher. Sebastian Haffner. Eine Biographie. Berlin: Aufbau, 2001, S. 263
4Nach: https://www.deutschlandfunk.de/rebecca-solnit-george-
orwells-rosen-100.html#:~:text=%E2%80%9EWer%20die%20
Vergangenheit%20kontrolliert%2C%20kontrolliert,
kontrolliert%2C%20kontrolliert%20die%20Vergangenheit%E2%80%9C. (entnommen am 24.02.2024)
5Friedman, Richard Elliott: Wer schrieb die Bibel? So entstand das Alte Testament. Köln: Anaconda, 2007, S. 156 (zit. als Friedman)
6Nach: https://www.bibelwissenschaft.de/ressourcen/
wibilex/altes-testament/abjatar (entnommen am 24.02.2024)
7Aus: https://de.wikipedia.org/wiki/Jerobeam_I. (entnommen am 24.02.2024) 8Siehe https://www.die-bibel.de/lightbox/basisbibel/
sachwort/sachwort/anzeigen/details/ heilige-hoehe/ (entnommen am 24.02.2024)
9Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%B6henheiligtum (entnommen am 24.02.2024)
10Clauss, Manfred: Das alte Israel. Geschichte, Gesellschaft, Kultur. München: C. H. Beck, 20032, S. 97/8 (zit. als Clauss)
11Aus: Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Leipzig u. a.: Breitenstein, 1896, S. 11
12Aus: Hazrat Mirza Tahir Ahmad (Hrsg.): Der heilige Quran. Ahmadiyya Muslim Jamaat in der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz, 19895
13Abdel-Samad, Hamed: Mohamed. Eine Abrechnung. München: Droemer, 2017, S. 187 (zit. als AS)
14Siehe auch AS, S. 189
15Hollstein, Walter: Kein Frieden um Israel. Zur Sozialgeschichte des Palästina-Konflikts. Ffm.: Fischer, 1972, S. 43
16Aus: https://www.bpb.de/themen/migration-integration/laenderprofile/
57631/historische-entwicklung-der-juedischen-einwanderung/ (entnommen am 28.01.2024)
17Aus: Baratz, Joseph: Siedler am Jordan. Die Geschichte vom ersten Kibbuz. Göttingen, Wien, Köln: Vandenhoeck & Ruprecht, 19632, S. 31/2
18Hilsenrath, Edgar: Die Abenteuer des Ruben Jablonski. Ein autobiographischer Roman. Berlin: Dittrich, 2007, S. 186/7
19Ebenda, S. 168/9
20Siehe Krämer, Gudrun: Geschichte Palästinas. München: Beck, 20034, S. 249
21Krämer, Gudrun: Geschichte Palästinas. München: Beck, 20034, S. 249/250 (zit. als Krämer)
22Eine Karte mit dem damaligen UN-Teilungsplan für Palästina finden Sie, wenn Sie in die Suchzeile der Suchmaschine (z. B. Google) die Stichwörter "UN-Teilungsplan für Palästina" eingeben.
23Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/UN-Teilungsplan_f%
C3%BCr_Pal%C3%A4stina (entnommen am 31.01.2024)
24https://embassies.gov.il/berlin/AboutIsrael/Dokumente%
20Land%20und%20Leute/Die_Unabhaengigkeitserklaerung_des_Staa
tes_Israel.pdf (entnommen am 1.2.2024)
25Nach Gen15,18 das "Land vom Grenzbach Ägyptens bis zum großen Strom, dem Euphrat" oder nach 1 Kön5,5 das Land "von Dan bis Beerscheba" (nach: https://de.wikipedia.org/wiki/ Eretz_Israel (entnommen am 13.02.2024))
26https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/der-lange-
traum-vom-anderen-israel-92704481.html (entnommen am 21.02.2024)
27https://www.deutschlandfunk.de/rassismus-hass-und-vorurteile-100.html (entnommen am 21.02.2024)
28https://www.deutschlandfunkkultur.de/in-israel-und-palaes
tina-religioese-juden-gegen-juedischen-100.html (entnommen am 21.02.2024)
29https://www.tagesspiegel.de/politik/wir-schaden-
uns-immer-gegenseitig-8109154.html (entnommen am 20.02.2024)
30https://www.deutschlandfunk.de/nahostkonflikt-zwei-
staaten-loesung-100.html#Realistisch (entnommen am 20.02.2024)
31Siehe Anmerkung 30
32https://www.lpb-bw.de/nahostkonflikt (entnommen am 20.02.2024)
33Josephus, Flavius: Geschichte des Judäischen [auch: Jüdischen] Krieges. Wiesbaden: VMA-Verlag, [o. J.]
34Martin, Wolfgang: Weltbilder, Ideologien, Verschwörungstheorien - eine Blütenlese menschlicher Dummheit. Berlin: Selbstverlag, 20232, S. 25 - 30
35Ebenda, S. 30

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