Leseprobe:
Aus: Joe J. Heydecker, Sebastian Haffner: Nichts mehr zu retten! -
Das Ende des Ersten Weltkriegs in Deutschland
[...] Jetzt erst unterschreibt der neue Reichskanzler die Waffenstillstandsbitte.
Ebenso wie zunächst Prinz Max von Baden nicht einsah, wieso er als Reichskanzler für die Militärs den Schwarzen Peter übernehmen sollte,
wollten auch viele Abgeordnete der SPD nicht einsehen, weshalb gerade sie in dieser verfahrenen Situation Regierungsverantwortung übernehmen
sollten.
"Philipp Scheidemann, damals der zweite Mann der SPD und ihr außenpolitischer Sprecher im Reichstag, plädierte in der Fraktionssitzung
ahnungsvoll gegen den Eintritt in ein 'bankrottes Unternehmen' und hatte damit einen großen Teil der Fraktion auf seiner Seite. [...]
[Aber] Friedrich Ebert, der sozialdemokratische Parteiführer, argumentierte in der Fraktionssitzung der SPD, wenn nun alles zusammenbräche,
dürfe sich die Partei nicht dem Vorwurf aussetzen, dass sie in einem Augenblick ihre Mitwirkung versagt habe, in dem man sie dringend
von allen Seiten darum gebeten habe. 'Wir müssen uns im Gegenteil in die Bresche werfen. Wir müssen sehen, ob wir genug Einfluss bekommen,
um unsere Forderungen durchzusetzen, und wenn es möglich ist, sie mit der Rettung des Landes zu verbinden, dann ist es unsere verdammte
Pflicht und Schuldigkeit, dies zu tun.' Ebert gewann - und schickte den widerstrebenden Scheidemann als Staatssekretär in die Regierung
des Prinzen Max.
Und so erfuhr Deutschland am Morgen des 5. Oktober, dass es von jetzt ab eine parlamentarische Demokratie sei; dass es eine neue Regierung
habe, in der, unter einem liberalen badischen Prinzen als Kanzler, die Sozialdemokraten, die 'Scheidemänner', den Ton angaben; und dass
diese Regierung sofort, als allererstes, ein Friedens- und Waffenstillstandsgesuch an den amerikanischen Präsidenten gerichtet habe. Von dem,
was am 29. September geschehen war, erfuhr niemand etwas. Dass hinter dem Waffenstillstandsgesuch Ludendorff steckte, dass er es geradezu
erzwungen hatte, davon ahnte außerhalb eines ganz kleinen geschlossenen Kreises niemand in Deutschland das geringste. Ein solcher Verdacht
wäre auch absurd erschienen: Hindenburg und Ludendorff - das waren doch die Männer mit den starken Nerven und dem eisernen Siegeswillen,
die selbsternannten Garanten des Endsiegs. Scheidemann dagegen und der Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger, die jetzt plötzlich in
der Regierung saßen, das waren ja die Männer der 'Friedensresolution' des Reichstags vom Juli 1917, die 'Jammergestalten, Miesmacher,
Flaumacher, Unglücksraben und quakenden Unken aus der Tiefe', wie ein Aufruf der freikonservativen Partei sie zur Begrüßung titulierte.
Zu ihnen passte es, dass sie nun, da die Dinge schlecht standen, sofort nach Frieden schrien! 'Hindenburgfrieden' und 'Scheidemannfrieden' -
unter diesen Schlagworten war jahrelang in Deutschland um die Kriegsziele gekämpft worden. Nun war Scheidemann in der Regierung -
und schon war die Kapitulation da. Da hatte man es. Natürlich, so musste es kommen. Mit dieser Regierung war der Krieg vorbei -
und verloren."2
Jetzt, nachdem die Waffenstillstandsbitte abgesandt war, wird Ludendorff plötzlich wieder optimistisch. In einem Gespräch mit dem
Reichskanzler Prinz Max von Baden will er weiterkämpfen. Militärisch, so drückt er sich aus, sei man in vier Wochen über dem Berg,
die Front würde noch mehrere Monate durchhalten, auch noch über den kommenden Winter. Der Kanzler muss jetzt jedes Vertrauen in Ludendorff
verlieren. Waren es nicht Ludendorff und Hindenburg gewesen, die gestern noch nach schnellstem Waffenstillstand gerufen hatten?
"Jetzt war [Ludendorff] plötzlich wieder für Abbruch des Notenwechsels und Weiterkämpfen - und das, obwohl die Lage Deutschlands von Tag
zu Tag verzweifelter wurde. [...]
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