Leseproben:
Aus: Paulus [...]Nun kommt ein Umstand ins Spiel, der für seinen weiteren Werdegang eine entscheidende Rolle spielt: Paulus litt sehr wahrscheinlich an einer Form von Epilepsie. Er hatte Anfälle. "Dass es sich um Anfälle handelt, die geeignet waren, ihn in den Augen der Menschen herabzusetzen, erfahren wir aus dem Brief an die Galater. Er dankt den Galatern, dass sie vor seinem Leiden nicht ausspien und ihn deswegen nicht geringschätzten." (Gal4,13/4; Schweitzer, Paulus, S. 215) Zur Vermutung, dass er Epileptiker war, passt auch, dass er gegenüber den Korinthern (II Kor12,1 - 4) bekennt, er sei einmal in den dritten Himmel und in das Paradies entrückt worden, wobei er unaussprechliche Worte gehört habe (s. Schweitzer, Paulus, S. 215). Ein Anfall vor Damaskus ändert sein Leben entscheidend: Dort stürzt er nieder und hört Stimmen; zurück bleibt eine vorübergehende Sehstörung. Er glaubt, dass ihn Jesus direkt angesprochen habe. Auch später noch wird Jesus während seiner Anfälle mit ihm kommunizieren. "Dass das von ihm [Paulus] verkündete Evangelium in keiner Weise auf durch Menschen empfangene Überlieferung und Lehre von Christus zurückgeht, behauptet er im Galaterbrief in der entschiedensten Weise. Gal1,11/2: 'Ich tue euch kund, Brüder, in Betreff des von mir verkündigten Evangeliums, dass es nicht Menschensache ist. Habe ich es doch nicht von einem Menschen empfangen noch gelehrt bekommen, sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi.'" (Schweitzer, Paulus, S. 238) Der Anfall vor Damaskus dreht Paulus um 180 Grad; er wechselt die Seiten: Vom beflissenen Verfechter des gesetzestreuen pharisäischen Judentums wird er zum entschiedensten Propagandisten der Christen seiner Zeit. Wieso das geschehen konnte, hängt mit seinem Weltbild zusammen. [...] Aus: Die Theologie des Paulus [...]Haben wir bisher immer von "den Menschen" geredet, so ist es nun an der Zeit, das zu konkretisieren und damit zu korrigieren: "Er [Paulus] kennt keine homogene Menschheit, sondern nur Menschenkategorien. Zunächst einmal ist sein Denken ja durch die Idee der Prädestination beherrscht. Ein gewaltiger Riss geht bei ihm durch den Begriff der Menschheit hindurch. Nicht der Mensch als solcher, sondern nur der, der dazu auserwählt ist, kann zu Gott in Beziehung treten. Der herrliche Spruch Röm8,28 'Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, er alles zum Guten zusammenwirken lässt' hat den furchtbaren beschränkenden Nachsatz: 'denen nämlich, die nach dem Vorsatz berufen sind'." (Schweitzer, Mystik, S. 35) "Bei Paulus handelt es sich [...] darum, dass nach vorherbestimmter Notwendigkeit die einen das Schicksal der Welt teilen, die andern durch Christus die zukünftige Herrlichkeit ererben." (Schweitzer, Mystik, S. 44) Gott möchte nun alle seine von Ewigkeit her vorherbestimmten Auserwählten bei sich haben. Dazu schickt er seinen von Ewigkeit her existierenden Sohn (Gott hat aus unerfindlichen Gründen nur einen) auf die Erde; er soll sich den Auserwählten zu erkennen geben, sie erlösen, sammeln und ihnen den Weg zu Gott weisen. Als Jesus erfüllt dieser Gottessohn auf der Erde seinen Auftrag: Er gibt sich zu erkennen und sammelt die Auserwählten der "Gemeinde Gottes". Die Engelwesen, die merken, dass ihnen hier ihre Macht über die Menschen entrungen wird, betreiben nun den Tod Jesu. Ihre teuflischen Machenschaften haben am Ende Erfolg: Jesus wird gekreuzigt. Aber damit haben sie sich selbst ins eigene Fleisch geschnitten, denn die Opferung Jesu bewirkte am Ende die Vergebung der Sünden der Auserwählten (offenbar brauchte das Gottvater, um den sündigen Auserwählten vergeben zu können). Die Engelwesen haben letztendlich Jesus getötet, weil sie kein Wissen von Gottes Plänen haben. (s. Schweitzer, Mystik, S. 114) Der Tod Jesu aber ist das Ende der Herrschaft der Engel, "weil sie damit eben das ausführen, was Gott zur Heraufführung der Endzeit geschehen lassen will. Sie haben keine Macht, diesen Getöteten [Jesus] wie andere Gestorbene im Grab zu behalten. Er steht zu neuem Leben auf und wird, gerade auf Grund seines Todes und seiner Auferstehung, der Messias in Herrlichkeit, der demnächst mit dem getreuen himmlischen Engelsheer über sie kommen soll. Aber nicht nur, dass sie so selbst das Ende ihrer Herrschaft vorbereitet haben: Im Tod Jesu verlieren sie bereits die Macht über die Menschen, die sie durch das Gesetz ausüben" - so sieht es Paulus. (Schweitzer, Mystik, S. 115) Die Engelsmächte verhelfen also Jesus dazu, die Erwählten von dem Fluch des Gesetzes dadurch loszukaufen, dass er selber diesen Fluch an sich vollzieht (Gal3,13/4). Wären sie als Wissende auf ihre Herrschaft bedacht gewesen, so hätten sie alles darangesetzt, seinen Tod zu verhindern. Ohne seinen Tod gäbe es jetzt keinen demnächst erscheinenden Messias und hätte die Geltung des Gesetzes nicht aufgehört. [...] Aus: Paulus und die Gnosis [...]Diese Idee, dass Gott einen göttlichen Sohn hat, erweist sich in der spätantiken Welt als ausgesprochen produktiv und regt die Fantasie vieler spirituell Unbefriedigter ganz entschieden an. Es bilden sich im Gefolge des Henoch-Buches vielfältige Welterklärungsgeschichten aus, die man später mit der Sammelbezeichnung "Gnosis" kennzeichnen wird. [...] Aus: Der Begriff "Sohn Gottes" In seinem Buch "Bruder Jesus" weist Schalom Ben-Chorin darauf hin, dass "der ‚Vater im Himmel' [...] nicht etwa eine christliche Vorstellung, sondern eine genuin jüdische" ist (S. 113). Die Israeliten sahen sich stets als Kinder ihres Gottes und diese Sichtweise hatten ebenso die Ur- und Frühchristen. Wie schon in den ersten christlichen Gemeinden beten noch heute die Christen: "Unser Vater im Himmel [...]", und im "Neuen Testament" heißt es "gut-jüdisch": "Wir heißen Kinder Gottes und wir sind es." (1 Joh3,1)Auch der Jude Jesus sah das so. Er war ein Kind seines Gottes, er war dessen Sohn und voll innerer Wärme nannte er ihn "Abba" (Papa; Mk14,36). Niemals aber hätte sich Jesus verstiegen, sich selbst deshalb als gleichberechtigt neben Jahwe, ihm ebenbürtig, zu sehen: "Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr", antwortet er einem Schriftgelehrten (Mk12,29) und in der Thora, welcher sich Jesus unbedingt verpflichtet wusste, heißt es unmissverständlich: "Du sollst neben mir keine anderen Götter haben." (Ex20,3) Damit bleibt Jesus völlig im traditionellen Rahmen des Judentums, wenn er sich als "Sohn Gottes" sieht; daran ist aus jüdischer Perspektive nichts, aber auch gar nichts blasphemisch. Verwenden die kanonischen Evangelien den Begriff "Sohn Gottes" in Bezug auf Jesus in demselben Sinn? Oder verstehen sie darunter die gnostische göttliche Erlösergestalt des "Menschensohns" aus dem Buch Daniel und vor allem aus dem Henoch-Buch? [...] |