Wolfgang Martin


Bibeltexte richtig verstehen:
Die Sehnsucht nach dem Paradies


Der Werdegang der eschatologischen Strömung in der Geschichte des jüdischen Volkes


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Der Text findet sich auch unter: https://d-nb.info/1366003853/34


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Inhalt

Mythos Paradies 1

Die Jagd nach einem Phantom 3

Anmerkungen 16

Kleines Begriffslexikon 19

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Mythos Paradies

Wie stellen wir uns das Paradies vor? So?

Ich erwache morgens unter sanft wiegenden Palmen, höre nur das Säuseln des Windes im Blattwerk der Bäume und das Plätschern eines klaren Bächleins, das neben mir dem ruhigen, weiten Meer entgegenfließt; an den Bäumen hängen die köstlichsten Früchte, und die angenehm warme Luft, in der mein Körper gleichsam badet, ist erfüllt von dem betörenden Duft des Jasmins. Hier gibt es keine gefährlichen Tiere, ich werde nicht ein einziges Mal krank und altere auch nicht; die Menschen, die ich treffe, sind sanft, liebe- und verständnisvoll, Streit und Aggression sind unbekannt, und da die Temperatur stets gleichbleibend angenehm ist, braucht man auch keine Kleidung...

Oder vielleicht so?

"Hört zu, ich will euch von einem guten Land erzählen, dahin würde mancher gern auswandern, wüsste er nur, wo es läge. Aber der Weg dahin ist weit.
Diese schöne Gegend heißt Schlaraffenland; da sind die Häuser gedeckt mit Eierfladen und Türen und Wände sind aus Lebkuchen und die Balken aus Schweinebraten. Um jedes Haus steht ein Zaun, der aus Bratwürsten und bayerischen Würsteln geflochten ist, die teils auf dem Rost gebraten, teils frisch gesotten sind, je nachdem, wie der Geschmack der Bewohner ist. Alle Brunnen sind voll Malvasier und anderer süßer Weine, auch Champagner, die rinnen einem nur so in das Maul hinein, wenn er es an die Röhren hält. Auf den Birken und Weiden da wachsen die Semmeln frisch gebacken, und unter den Bäumen fließen Milchbäche.
Die Fische schwimmen im Schlaraffenland oben auf dem Wasser, sind auch schon gebacken oder gesotten und schwimmen ganz nahe am Ufer; wenn aber einer gar zu faul ist und ein echter Schlaraff, der muss nur "bst! bst!" machen, dann kommen die Fische auch heraus aufs Land spaziert und hüpfen dem guten Schlaraffen in die Hand, damit er sich nicht zu bücken braucht.
Die Vögel fliegen dort gebraten in der Luft herum, Gänse und Truthähne, Tauben und Hähnchen, Lerchen und Drosseln, und wem es zu viel Mühe macht, die Hand danach auszustrecken, dem fliegen sie schnurstracks ins Maul hinein. Die Spanferkel gelingen dort überaus trefflich; sie laufen gebraten umher und jedes trägt ein Tranchiermesser im Rücken, damit, wer da will, sich ein frisches, saftiges Stück abschneiden kann.
Die Käse wachsen im Schlaraffenland groß und klein wie die Steine; die Steine selbst sind lauter Taubenkröpfe mit Gefülltem oder auch kleine Fleischpastetchen. Im Winter, wenn es regnet, so regnet es lauter Honig in süßen Tropfen, da kann einer lecken und schlecken, dass es eine Lust ist, und wenn es schneit, so schneit es klaren Zucker, und wenn es hagelt, so hagelt es Würfelzucker, untermischt mit Feigen, Rosinen und Mandeln.
In dem Land gibt es auch große Wälder, da wachsen im Buschwerk und auf Bäumen die schönsten Kleider: Röcke, Mäntel, Hosen und andere Kleidungsstücke von allen Farben, und wer ein neues Gewand braucht, der geht in den Wald, und wirft es mit einem Stein herunter. In der Heide wachsen schöne Damenkleider aus Samt, Atlas, Seide und so weiter. Das Gras besteht aus Bändern von allen Farben. Die Wachholderstöcke tragen Broschen und goldene Krawattennadeln und ihre Beeren sind nicht schwarz, sondern bestehen aus echten Perlen. An den Tannen hängen Damenuhren und Halsketten, auf den Stauden wachsen Stiefel und Schuhe, auch Herren- und Damenhüte, Reisstrohhüte und allerlei Kopfputz mit Paradiesvögeln, Kolibris, Brillantkäfern, Perlen und Goldborten verziert.
Dieses edle Land hat auch zwei große Messen und Märkte mit schönen Attraktionen. Wer eine alte Frau hat und sie nicht mehr mag, weil sie ihm nicht mehr jung genug und hübsch ist, der kann sie dort gegen eine junge und schöne vertauschen und bekommt noch ein Draufgeld. Die alten Weiber aber kommen in einen Jungbrunnen, worin sie etwa drei Tage oder höchstens vier baden, da werden schmucke Mädchen daraus von siebzehn oder achtzehn Jahren.
Um das ganze Land herum ist eine berghohe Mauer von Reisbrei. Wer hinein oder heraus will, der muss sich da erst durchfressen."[1]

Die Israeliten stellten sich das Paradies so vor:

Gen 1,7-15:
"Da formte Gott, der HERR, den Menschen, Staub vom Erdboden, und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen. Dann pflanzte Gott, der HERR, in Eden, im Osten, einen Garten und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte. Gott, der HERR, ließ aus dem Erdboden allerlei Bäume wachsen, begehrenswert anzusehen und köstlich zu essen [...]. Ein Strom entspringt in Eden, der den Garten bewässert; dort teilt er sich und wird zu vier Hauptflüssen. Der Name des ersten ist Pischon; er ist es, der das ganze Land Hawila umfließt, wo es Gold gibt. Das Gold jenes Landes ist gut; dort gibt es Bdelliumharz und Karneolsteine. Der Name des zweiten Stromes ist Gihon; er ist es, der das ganze Land Kusch umfließt. Der Name des dritten Stromes ist Tigris; er ist es, der östlich an Assur vorbeifließt. Der vierte Strom ist der Eufrat. Gott, der HERR, nahm den Menschen und gab ihm seinen Wohnsitz im Garten von Eden, damit er ihn bearbeite und hüte."

Immerhin: Gebratene Tauben fliegen hier den Menschen nicht in den Mund, sie müssen ihren Garten von Eden selbst bearbeiten und hüten. Aber so stellten sich die Israeliten den ursprünglichen Zustand des Menschen vor: Er lebte zusammen mit seinem Gott in einem von diesem geschaffenen idealen Garten und es war dem Menschen eine Lust, diesen zu bearbeiten und zu hüten. Harmonie pur! Jeden Tag! Eine Ewigkeit lang!

Die Jagd nach einem Phantom

Es klingt schon ein bisschen verrückt, aber das hielten die Israeliten tatsächlich für den Urzustand des Menschen. Ja, und dann haben sie sich das verscherzt, diese Dösbaddel, sind rausgeschmissen worden, und seitdem müssen sie schuften, müssen sich abrackern, und der Sorgen sind täglich viele.
Aber die Israeliten waren sich sicher, dass dieser Rauswurf ihren Gott selbst schmerzte, dass er diese Saubande im Grunde seines Herzens doch sehr liebte und gerne wieder mit ihnen im Garten Eden zusammenleben möchte. Aber - Strafe muss sein: Sein Volk muss sich zunächst bewähren, muss zeigen, dass es sich gebessert hat. Dann, erst dann wird er wieder den Garten Eden eröffnen und auf immer mit ihnen zusammenleben. Das heißt, für einen Israeliten war die Weltgeschichte ein Weg vom Paradies zum Paradies, von der Erschaffung der Welt bis zu ihrem Ende, das eben darin bestand, dass Gott in einer ewigen Heilszeit mit seinem Volk und den anderen botmäßigen Völkern im Paradies in vollkommener Harmonie zusammenlebt. Und die Geschichte der israelitischen Religion ist eine Geschichte der jüdischen Sehnsucht nach diesem finalen Reich Gottes. Und alles, was den Israeliten jeweils widerfuhr, deuteten sie stets als von Gott verursacht: War es etwas Positives - zum Beispiel ein Sieg über ein Nachbarvolk - so verstanden sie es als Belohnung vonseiten ihres Gottes, widerfuhr ihnen Schreckliches, deuteten sie es als Strafe ihres Gottes für irgendein Fehlverhalten ihrerseits. Das betrifft nicht nur das, was dem gesamten Volk widerfährt, sondern auch das, was jedem einzelnen Individuum von Gottes Volk geschieht: Wird jemand krank, so zeigt das, dass derjenige gesündigt hat, denn sobald ein Mensch sündigt, flieht ihn Gottes Geist, Dämonen können nun ungehindert von dem sündigen Menschen Besitz ergreifen und ihn ganz nach ihrem Schlechtdünken steuern. Sichtbar wird dies äußerlich, dass dieser sündige Mensch krank wird; Krankheit ist für den Israeliten immer ein Hinweis auf Dämonenbefall und damit darauf, dass dieser Mensch sündig geworden und von Gott verlassen worden ist. Wenn einem Israeliten ein Unglück widerfährt, so ist auch dies ein Zeichen dafür, dass er gesündigt und Gottes Geist ihn verlassen hat. So sind die achtzehn Menschen, die nach Lk 13,4 beim Einsturz eines Turms in Jerusalem ums Leben kamen, für einen Israeliten keinesfalls bemitleidenswert; nein, dass ihnen das widerfahren ist, zeigt, dass sie Schuld auf sich geladen haben, Gottes Geist sie deshalb verlassen und sie auf diese Weise bestraft hat; Fazit: Geschieht ihnen recht!
Widerfuhr also den Israeliten Schreckliches, so zeigte dies, dass sie gesündigt hatten und das schreckliche Geschehen von ihrem Gott als Strafe verhängt worden war. Diese Sichtweise ist bei den Israeliten grundlegend - von ihren ersten Anfängen bis zum heutigen Tag. Sie deuteten ihre Geschichte stets als Handeln ihres Gottes, das sie betraf. Mit dieser Erkenntnis haben wir den Schlüssel für das Verständnis der israelitischen Geschichte. - Wo und wie fing denn nun ihre Geschichte wirklich an?
Es begann alles in einer Region, die den östlichen Abschluss des Mittelmeeres bildet, also in Palästina. Der Raum, in dem die Königreiche Israel und Juda entstanden, wird im Westen durch die - in grober Annäherung - nord-südlich verlaufende Küstenlinie des Mittelmeeres begrenzt, im Osten durch einen - nahezu exakt - nord-südlich verlaufenden Grabenbruch, in dem von Norden nach Süden der ehemalige Hulesee, der See Genezareth sowie das Tote Meer - alle verbunden durch den Fluss Jordan - zu finden sind. Im Norden findet der Raum etwa in Höhe der Golanhöhen, im Süden durch die Negev-Wüste seinen Abschluss.
Landschaftlich gliedert sich der Raum in drei nord-südlich verlaufende Streifen: Im Westen finden wir Küstenebenen, daran schließen sich das Bergland von Samarien sowie das Judäische Bergland an, die im Osten durch den Jordangraben begrenzt werden. Östlich des Jordangrabens finden wir - an Palästina angrenzend - Transjordanien, im Norden schließt das Galiläische Bergland, im Süden das Negev-Hochland den Raum ab. Das Galiläische Bergland wird durch die Jesreel-Ebene vom Bergland von Samarien getrennt, das Negev-Hochland wird vom Negev-Becken vom Judäischen Bergland getrennt.
Klimatisch ist das Gebiet dem Mittelmeerklima zuzuordnen: Trockenen Sommern stehen niederschlagsreichere Winter gegenüber, wobei sowohl die Höhe der jeweiligen durchschnittlichen Jahresniederschläge als auch die Zuverlässigkeit der Winter-Niederschläge variieren kann; das heißt, es besteht auch immer die Gefahr einer Dürre. Während der Niederschlag im Norden (Galiläa) mit ca. 600 bis 800 mm durchschnittlicher jährlicher Niederschlagsmenge noch verhältnismäßig hoch ist, sinkt er Richtung Süden stetig ab, sodass die durchschnittlichen jährlichen Niederschläge in der Negev-Wüste unter 100 mm betragen. Ein ähnliches Gefälle beobachten wir von Westen nach Osten: Während die Küstenebenen sowie das zentrale Bergland noch mit befriedigenden Niederschlägen rechnen können, fällt die Niederschlagsmenge Richtung Jordangraben deutlich ab.
Die Bevölkerung in Palästina beziehungsweise in Kanaan, wie die Region Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. genannt wurde, war von alters her recht heterogen. Nach dem Bibeltext (Gen 10,15 ff.) lebten im Lande Kanaan Jebusiter, Amoriter, Girgaschiter, Hiwiter und weitere Völkerschaften. Im Gefolge des kriegerischen Einfalls von "Seevölkern" zwischen 1300 und 1150 v. Chr. siedelten sich an der Küste nördlich von Galiläa die Phönizier und im Küstengebiet des heutigen Gaza-Streifens die Philister an, von denen sich die Bezeichnung Palästina ableitet. In deren Siedlungsgebieten hatten sich schon früh Stadtstaaten gebildet, die es durch den Handel in friedlichen Zeiten zu Reichtum und Wohlstand brachten, so zum Beispiel die Küstenstädte Sumur, Byblos, Sidon, Tyrus (Phönikien), Asdod, Askalon und Raphia (Philistäa).
In den Dörfern zwischen der Küste und dem Bergland von Samaria und Juda siedelten sesshafte Ackerbauern, welche die Städte an der Küste mit den nötigen Lebensmitteln versorgten. Das Bergland war im späten 2. Jahrtausend v. Chr. nur dünn besiedelt und wenig erschlossen; ausgedehnte Wälder beherrschten noch die Berglandschaft. Im Übergangsbereich des östlichen Berglandes zu den Steppen des Jordangrabens und Transjordaniens herrschte Halbnomadismus vor. Und mit diesen in Stammesverbänden organisierten Halbnomaden sind wir bei jener Bevölkerungsgruppe, die sich allmählich als Israeliten verstehen.
"In Kanaan konnte eine große Zahl von Hirtennomaden besonders in der Spätbronzezeit im Bergland und am Wüstenrand nur existieren, wenn die kanaanäischen Stadtstaaten und Dörfer einen ausreichenden Getreideüberschuss für den Handel produzierten. Das war während der dreihundert Jahre langen ägyptischen Herrschaft über Kanaan der Fall. Als dieses politische System jedoch im 12. Jahrhundert v. Chr. zusammenbrach, funktionierte auch sein Wirtschaftsnetz nicht mehr. Man darf daher annehmen, dass sich die Dorfbewohner in Kanaan auf die Produktion für den Eigenbedarf konzentrieren mussten und keine bedeutenden Getreideüberschüsse über das hinaus erwirtschafteten, was sie selbst brauchten. Deshalb mussten sich die Hirten im Bergland und am Wüstenrand den neuen Bedingungen anpassen und ihr eigenes Getreide anbauen. Schon bald führten die Anforderungen des Ackerbaus dazu, dass der Umfang der saisonalen Wanderungen zurückging. Weil die Dauer der Wanderungen schrumpfte, wurden die Herden verkleinert, und da zusehends mehr Mühe in die Landwirtschaft investiert wurde, erfolgte eine dauerhafte Verlagerung zur Sesshaftigkeit.
Der hier beschriebene Prozess ist genau das Gegenteil von dem, was in der Bibel steht: Der Aufstieg des frühen Israels war ein Ergebnis des Zusammenbruchs der kanaanäischen Kultur, nicht ihre Ursache. Und die meisten Israeliten kamen nicht von außen nach Kanaan - sondern aus seiner Mitte heraus. Es gab keinen Massenauszug aus Ägypten, ebenso wenig wie eine gewaltsame Einnahme Kanaans. Die meisten Menschen, die das frühe Israel bildeten, waren Einheimische - die gleichen Menschen, die im Bergland in der Bronze- und Eisenzeit zu sehen sind. Die frühen Israeliten waren - ein Gipfel der Ironie - selbst ursprünglich Kanaanäer!"[2]
Der Zusammenbruch des Wirtschaftsgefüges des Raumes Kanaan, ausgelöst durch die kriegerischen Überfälle von Seevölkern im 12. Jahrhundert v. Chr., löste eine Kolonisationswelle im Bergland aus: "In den zuvor dünn besiedelten Gebieten des Judäischen Berglands im Süden bis zum Bergland von Samaria im Norden, weitab von den kanaanischen Städten, die kurz vor ihrem Zusammenbruch und ihrer Auflösung standen, entstanden unvermittelt zweihundertfünfzig Gemeinden auf Bergspitzen. Hier lebten die ersten Israeliten."[3]
"Gibt es in den Dörfern der Menschen, die das frühe Israel bildeten, somit etwas, das sie von ihren Nachbarn unterschied? Wie kristallisierten sich ihre ethnische Zugehörigkeit und Nationalität heraus?
Heute demonstrieren die Menschen genau wie in der Vergangenheit ihre ethnische Zugehörigkeit auf viele verschiedene Arten: mit ihrer Sprache, Religion, Kleidung, ihren Bestattungsriten und aufwendigen Speisevorschriften. Die einfache materielle Kultur der Hirten und Bauern im Bergland, die die ersten Israeliten wurden, gibt keinen klaren Hinweis auf ihren Dialekt, ihre religiösen Rituale, Kleidung oder Bestattungsriten. Aber ein sehr interessantes Detail über ihre Speisegewohnheiten wurde entdeckt. Die Knochen, die man bei den Ausgrabungen der kleinen frühen israelitischen Dörfer im Bergland fand, unterschieden sich von denen aus Ortschaften in anderen Landesteilen in einer signifikanten Hinsicht: Es gab keine Schweine."[4]
"Vergleichbare Daten aus den philistäischen Ortschaften an der Küste aus derselben Zeit - Eisenzeit I - weisen eine erstaunlich hohe Zahl von Schweineknochen unter den gefundenen Tierknochen auf. Die frühen Israeliten aßen demnach keine Schweine, die Philister dagegen durchaus, genauso (so gut man anhand spärlicher Daten beurteilen kann) wie auch die Ammoniter und Moabiter östlich des Jordans.
[...]
Fünfhundert Jahre bevor der biblische Text mit seinen detaillierten Speisevorschriften entstand, beschlossen die Israeliten [...], kein Schweinefleisch mehr zu essen"[5], was angesichts ihrer (halb-) nomadischen Lebensweise kaum verwundert. Im Vergleich zu Ziegen und Schafen können Schweine keine Pflanzen mit hohem Zellulosegehalt verdauen, also kein Gras, welches die Hauptnahrung für das Kleinvieh dieser Nomaden darstellte. Man müsste die Schweine mit Feldfrüchten füttern, womit sie aber zu Nahrungskonkurrenten der Menschen würden. Nicht nur, dass Schweine keine Milch geben, sie sind auch nicht in der Lage sich abzukühlen, da sie keine Schweißdrüsen besitzen, und erleiden daher ohne Schatten sehr leicht einen Hitzschlag. Hausschweine können zudem ohne Schatten auch einen Sonnenbrand bekommen. Das alles macht sie für eine nomadische Lebensweise ausgesprochen ungeeignet. War es also zunächst einfach nur eine Gegebenheit, dass die Ackerbauern in den Dörfern Schweineherden besaßen, die Israeliten dagegen nicht, wurde diese Tatsache im Laufe der weiteren kulturellen Entwicklung zu einem bewussten ethnischen Abgrenzungsmerkmal mit religiöser Begründung.
Die Erkenntnis, dass die Israeliten selbst Bewohner Kanaans waren, "schließt nicht aus, dass auch Gruppen von außen zuwanderten: so wahrscheinlich semitische Fronarbeiter, die unter Ramses II. (1290-1212) zu Bauarbeiten im Nildelta bei den Städten Pitom und Ramses gepresst worden und unter Führung Moses und der Verheißung des Gottes Jahwe, den dieser bei den Midianitern in Nordarabien kennengelernt hatte, nach Palästina geflohen waren. [...]
Sicher nicht historisch ist die Sicht des [biblischen] Buches Josua (Josua 1-12), dass das ganze Land gewaltsam erobert wurde; dagegen spricht nicht nur die andere Sicht von Richter 1, sondern vor allem der archäologische Befund: Die Städte Jericho und Ai, die Josua erobert haben soll, lagen schon Jahrhunderte in Trümmern, bevor Israel entstand [...]. Der Entstehungsprozess Israels war, wie die unbefestigten Dorfgründungen zeigen, in seiner ersten Phase friedlich. Erst als Israels Siedlungsgebiet sich auszuweiten begann, kam es mit den Kanaanäerstädten und den Philistern in Konflikt."[6]
Die Staaten Israel und Juda verdankten ihre Entstehung einer längeren Schwächeperiode der Großmächte zwischen 1200 und 750 v. Chr., welche die ehemalige ägyptische Provinz Kanaan umgaben. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts v. Chr. kam es - wahrscheinlich infolge der verheerenden Kriegs- und Beutezüge von Seevölkern aus dem ägäischen Raum, einer Zunahme von Missernten, ausgelöst durch vermehrte Dürreperioden, und katastrophaler Erdbeben - zu einem Kollaps der drei Großmächte des östlichen Mittelmeerraums: "Die mykenische Welt [Griechenland] ging unter, das Hethiterreich [Anatolien] brach zusammen, die ägyptische Macht [Nildelta] wurde nachhaltig geschwächt [...]."[7]
In diesem Machtvakuum bildeten sich in Palästina in der Folge mehrere Kleinstaaten, darunter auch der Nordstaat Israel und der Südstaat Juda, wobei es sich bei dem eisenzeitlichen Brüderpaar Israel und Juda um recht unterschiedliche Brüder handelte, deren Verhältnis eher von Konkurrenz und - was Juda betrifft - durchaus auch von Neid und Missgunst geprägt war. Nachdem es - ausgelöst durch den Konflikt mit den Philistern - zu einer Union der beiden Staaten gekommen war (Könige: Saul, David, Salomo), brach diese Allianz unter dem judäischen König Rehabeam, Sohn von Salomo, wieder auseinander.
"Man muss sich [...] klarmachen, dass die Israeliten eine Völkerschaft unter anderen Völkerschaften war und dass ihre Religion eine Religion unter anderen Religionen war. Kanaan war eine Vielvölkerregion mit einer bunten Vielfalt von Religionen, Göttern, religiösen Praktiken und Anschauungen, wobei die frühen Israeliten sicherlich die 'Hillbillys', also die Hinterwäldler der Region waren. Vielleicht ist das der Grund, warum sie in ihren Mythen zur Angeberei neigten: Nicht alle Städte Kanaans hatten sich von den Einfällen der Seevölker und deren Zerstörungen erholen können und von jenen, die wieder auf die Beine gekommen waren, wurden bei einem Kriegszug des Pharaos Schischak Ende des 10. Jahrhunderts v. Chr. nicht wenige ein weiteres Mal zerstört. Diese Ruinen- und Trümmerstädte seien, so die Israeliten, ihr Werk gewesen, sie hätten all diese Städte zerstört und deren Bewohner niedergemacht; so hätten sie sich das Land, Kanaan, genommen - auf Geheiß ihres Gottes. Mann, was waren diese Israeliten für Kerle, was für ein mächtiger Gott ist an ihrer Seite! - Das ist der Eindruck, den die Israeliten mit solchen Geschichten erwecken wollten. Und wie sie den Ägyptern entkamen: Unglaublich! Welche Kerle! Welch ein Gott! Die Israeliten schwelgten in ihren literarischen Produkten in Machtfantasien auf Kosten der anderen Völkerschaften, die Kanaan bevölkerten: Ihr Gott Jahwe habe sie unter allen anderen Völkern erwählt, die Israeliten zu seinem Lieblingsvolk gemacht; sie sollten dermaleinst die Vorherrschaft über alle anderen Völker erhalten, ihnen schenkte er Kanaan, nicht den anderen darin lebenden Völkerschaften."[8]
Und in der Bibel steht auch, ihr Gott Jahwe habe "ihnen gelobt, sie 'in ein schönes, weites Land [zu führen], in ein Land, in dem Milch und Honig fließen, in das Gebiet der Kanaanäer, Hetiter, Amoriter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter' (Ex 3,8). Mit der Sesshaftwerdung der Israeliten in Kanaan hatte Gott sein Versprechen erfüllt - glücklich werden mussten sie dort jetzt selbst (immerhin war es ein Land, in dem man glücklich werden konnte). [...]
Aber es kam alles ganz anders, wenngleich dies Gott hätte voraussehen können, ist er doch verantwortlich für die genetische Ausstattung der Spezies Mensch; kaum waren die Israeliten sesshaft geworden, kaum kam es zur Erwirtschaftung von nennenswertem Mehrprodukt, gab es auch schon jene netten Zeitgenossen, die meinten, sie hätten ein Recht darauf, sich dieses Mehrprodukt anzueignen. Sie entwickelten sich unter den Königen rasch zu einer veritablen 'Upperclass', die buchstäblich 'die Sau rausließ': In ihrer unersättlichen Gier kannten sie keine moralische Grenze:

'Mein Volk - seine Herrscher sind voller Willkür,
Wucherer beherrschen das Volk.
[...] mit den Ältesten und den Fürsten […]
habt [ihr des Volkes] Weinberg geplündert;
eure Häuser sind voll von dem,
was ihr den Armen geraubt habt.
Wie kommt ihr dazu, mein Volk zu zerschlagen?
Ihr zermalmt das Gesicht der Armen'. (Jes 3,12 - 15)
'Weh euch, die ihr Haus an Haus reiht
und Feld an Feld fügt,
bis kein Platz mehr da ist
und ihr allein im Land ansässig seid.' (Jes 5,8)
'Er hoffte auf Rechtsspruch -
doch siehe da: Rechtsbruch -
und [er hoffte] auf Gerechtigkeit -
doch siehe da: Der Rechtlose schreit.' (Jes 5,7)
'Wo ist denn dein König, der dich retten könnte,
dich und all deine Städte?' (Hos 13,10)
'Wehe den Sorglosen auf dem Zion
und den Selbstsicheren auf dem Berg von Samaria.
Wehe den Vornehmen des ersten unter den Völkern,
den Herren des Hauses Israel!
[...]
Ihr [...] führt die Herrschaft der Gewalt herbei.
Ihr liegt auf Betten aus Elfenbein
und faulenzt auf euren Polstern.
Zum Essen holt ihr euch Lämmer aus der Herde
und Mastkälber aus dem Stall.
Ihr grölt zum Klang der Harfe,
ihr wollt Lieder erfinden wie David.
Ihr trinkt den Wein aus großen Humpen,
ihr salbt euch mit dem feinsten Öl [...].' (Am 6,3 - 6)

Auch Micha klagt an: 'Aus seiner persönlichen Anschauung kannte er [Micha] die Missstände, gegen die er sich wandte, insbesondere die von Jerusalem ausgehende Auflösung des alten Bodenrechts zugunsten der Großgrundbesitzer. Die ungewöhnliche Schärfe und Bitterkeit seiner Anklagen und Drohungen erklären sich aus dem Mitgefühl mit den Leiden der Bauern und aus der Verachtung für die Berufspropheten, die den Reichen nach dem Munde redeten, um daran zu verdienen'. ([s. Anm. 19,] Fohrer, S. 259)
Landraub, Korruption, Ausbeutung, Ungerechtigkeit, Unterdrückung!"[9]
Für die Propheten war klar: Das konnte ihr Gott nicht gewollt haben, war er doch der Gott des ganzen Volkes und nicht der Gott einer gerissenen Clique skrupelloser Profiteure.
Zugleich gab es aus eigennützigen Motiven heraus auch stets das Drängen der Jahwe-Priesterschaft, die Kultorte der Götter der anderen Völkerschaften Kanaans zu zerstören und deren Priesterschaft zu töten. Angeblich verlange dies Jahwe. Geschehe das nicht, würden die israelischen und judäischen Könige mit Jahwes Zorn, sprich: mit Bestrafung rechnen müssen.
Angesichts der Probleme der großen Masse der armen israelitischen Bevölkerung erträumten sich die Propheten das Kommen eines Königs, dessen Königsherrschaft zur Rückkehr der vermeintlich glorreichen Zeiten des Königs David führen sollte, eines Gesalbten (= König, hebr. Maschiach, = Messias, griech. Christós, latinisiert Christus) aus dem Geschlecht König Davids aus Betlehem.
Die Propheten sahen, wie sich die Gewitterwolken über den Israeliten langsam zusammenzogen, wie sich allmählich Gottes Strafe für die vermeintlichen Vergehen der Israeliten am Horizont abzeichnete: Im Laufe der Zeit hatte sich die ägyptische Großmacht wieder gefestigt, waren nordöstlich von Palästina neue Großreiche entstanden, Reiche mit einem aggressiven Expansionsdrang und einer brutalen, mörderischen Kriegsführung, allen voran Assyrien. Israel wurde 722/1 v. Chr. von den Assyrern vereinnahmt, die israelische Oberschicht deportiert. "Auf dem ehemaligen Gebiet Israels wurden Bauern aus Babylon, dem nordsyrischen Hamath sowie Araber angesiedelt [...]. [...] Damit endete das Königreich Israel."[10]
Juda blieb nur eine relativ kurze Verschnaufpause: Nach dem Niedergang des Assyrerreiches geriet Juda vorübergehend unter ägyptische Hoheit. "Im Jahre 605 [v. Chr.] ging die ägyptische Herrschaft über Syrien-Palästina zu Ende [...]. Der Babylonier Nebukadnezar (604-562 [v. Chr.]) etablierte ein neues Weltreich im Vorderen Orient."[11] Damit hatte die Oberhoheit über Juda zwar gewechselt, "die Abhängigkeit [Judas] und die damit verbundenen leidigen [Tribut-]Zahlungen allerdings nicht."[12] "[...] so erklärt sich die Entscheidung [des judäischen Königs] Jojakims, die Zahlungen an Babylon einzustellen, als Nebukadnezar 600 [v. Chr.] in Ägypten eine Niederlage erlitt. [...] Jerusalem wurde drei Monate lang von Babyloniern belagert, dann kapitulierte Jojachin[, der seinem verstorbenen Vater Jojakim auf den Thron gefolgt war]. Dadurch entging die Hauptstadt 597 [v. Chr.] noch einmal der Zerstörung. Die üblichen Deportationen des Herrschers [Jojachin], seiner Familie, des Hofstaats und der obersten Beamten konnte allerdings niemand verhindern. Das gleiche Schicksal traf die waffenfähige Oberschicht und die Handwerker [...]. Die Babylonier setzten in dem erneut verkleinerten Juda einen [...] Verwalter ein: Zedekia [...]"[13] Als sich Babylon 589 v. Chr. im Innern und an sämtlichen Grenzen mit zahlreichen Problemen konfrontiert sah, befahl Zedekia den Aufstand gegen Babylon.[14] "Noch im selben Jahr rückten Truppen Nebukadzezars in Juda ein"[15] und eroberten 587/586 v. Chr. erneut Jerusalem. Die Stadt wurde samt Tempel vollständig zerstört und wieder "wurden Teile der Bevölkerung und der ländlichen Oberschicht [nach Babylon] deportiert" [16]. Diese Zeit des Babylonischen Exils sollte für die Verschleppten bis 538 v. Chr. dauern.
Wie verstanden die Propheten diese Geschehnisse? Als Strafe ihres Gottes für gottloses Betragen. So, sagten sich die Propheten, das hatten sie nun davon, aber die Propheten waren überzeugt: Nach der Züchtigung musste von ihrem Gott die Gnade eines Neuanfangs kommen. Jetzt, jetzt musste der ersehnte Gesalbte (= der König, hebr. Maschiach, = Messias, griech. Christós, latinisiert Christus) aus dem Geschlecht des Königs David aus Betlehem kommen.
"Der Messias galt als 'der künftige König der eschatologischen Heilszeit, der die Regierung als Jahwes Stellvertreter auf Erden ausübt. Er ist der Herrscher in dem kommenden nationalen und religiösen Reich, das Jahwe eines Tages auf wunderbare Weise errichten wird. Die Messiaserwartung ist also dort entstanden und hat dort eine Rolle gespielt, wo man eschatologisch dachte und zugleich davidisch-königstreu war. Dass sie [die Messiaserwartung] so selten begegnet und im Hintergrund bleibt, hat seinen Grund darin, dass solche Kreise zahlenmäßig klein waren und keinen nachhaltigen Einfluss besaßen.' ([s. Anm. 19,]Fohrer, S. 359)
'Der Person nach ist der Messias durchweg ein sterblicher Angehöriger der abgesetzten davidischen Dynastie. Als Haggai und Sacharja wegen ihrer Naherwartung jemanden nennen mussten, der das Herrscheramt sofort übernehmen konnte, fanden sie ihn in der Gestalt Serubbabels, eines Enkels des früheren Königs Jojachin. Nach dem Scheitern der an ihn geknüpften Hoffnungen legte man sich dagegen nicht mehr auf eine bestimmte Person fest, sondern sprach allgemein von einem Sprössling oder Wurzelschoss an dem übriggebliebenen Stumpfe Isais, von einem Abkömmling der alten betlehemitischen Linie. Es ist nicht David persönlich, der auf wunderbare Weise zurückkehrt, kein wiedererstandener oder von Neuem inkarnierter David, kein Davidus redivivus. Das ist ein für die alttestamentliche Zeit unvollziehbarer Gedanke. Auch wenn der eschatologische Herrscher einfach ›David‹ genannt wurde, war es nur eine verkürzte Bezeichnung für einen Abkömmling der früheren Dynastie.
Der Messias ist kein übernatürliches Wesen, das auf die Erde herabkommt, sondern ein Mensch wie andere. Von ihnen unterscheidet er sich lediglich dadurch, dass er zu Jahwe als dessen Stellvertreter in einer besonders engen Beziehung steht und der früheren Dynastie entstammt. Nicht der Messias ist wunderbar; wunderbar werden vielmehr die von Jahwe heraufgeführte Heilszeit und das von ihm errichtete Reich sein. [...] Die Aufgabe des Messias wird darin bestehen, dass er als ein gerechter König auf dem Throne Davids sitzen und regieren wird."[17]
Immer wenn nun nach der Rückkehr der babylonischen Exilanten, der Wiedererrichtung des Tempels und dem Wiederaufbau Jerusalems in der weiteren Geschichte Judäas eine starke, erfolgreiche Führergestalt auftrat, wurde diese mit der Messiasvorstellung verknüpft. Und immer dann, wenn sich unter deren Führung am Ende nicht das ersehnte messianische Reich als Vorstufe für das kommende Reich Gottes, das Paradies, verwirklichte, wenn alles häufig genug in Chaos, Bürgerkrieg und Blutbädern endete (s. auch Clauss, S.105), konstatierten diejenigen, die sehnlichst den Messias erwartet hatten, dass es dieser wohl nicht gewesen sei. Nach diesen fortlaufenden Enttäuschungen setzte sich in den eschatologischen Kreisen Judäas allmählich der Gedanke fest, wenn sterbliche Hoffnungsträger durchweg enttäuschten, dann müsse eben der Messias als unsterbliches, göttliches Wesen vom Himmel kommen. Früchte dieser Sichtweise waren vor allem zwei Bücher: einmal das Buch Henoch und zum zweiten das Buch Daniel, beide etwa um 160 v. Chr. entstanden, wobei die Endredaktion des Henoch-Buches im letzten vorchristlichen Jahrhundert von den Essenern vorgenommen wurde.
Mit diesen beiden Büchern steht die jüdische Religion nun am Scheideweg, hier beginnt die eschatologische jüdische Theologie den bisherigen Monotheismus aufzugeben. Schauen wir uns das genauer an.
Den Gedanken eines zweiten göttlichen Wesens im Himmel, gleichberechtigt neben dem bisherigen Gott, finden wir explizit zum einen im Henoch-Buch[18]. Dort heißt es unter anderem:

46. Kapitel
1
Ich sah dort den, der ein Greisenhaupt besitzt,
und sein Haupt war weiß wie Wolle,
und bei ihm war ein anderer,
dessen Antlitz das eines Menschen war,
und sein Angesicht war voll Anmut,
ähnlich dem eines heiligen Engels.
2
Ich fragte den Engel,
der mit mir ging und mir alle Geheimnisse zeigte,
über jenen Menschensohn, wer er sei,
woher er stamme
und weshalb er mit dem Greisenhaupte gehe.
3
Er gab mir zur Antwort:
Dies ist der Menschensohn, der die Gerechtigkeit besitzt,
bei dem die Gerechtigkeit wohnt
und der alle Schätze dessen, was verborgen ist, offenbart;
denn der Herr der Geister hat ihn auserwählt
und sein Los übertrifft durch Rechtschaffenheit
in Ewigkeit alles vor dem Herrn der Geister.

48. Kapitel
2
Und in jener Stunde ward der Menschensohn vor dem Herrn der Geister genannt
und sein Name vor dem Betagten.
3
Bevor die Sonne und die Zeichen geschaffen
und bevor des Himmels Sterne gemacht wurden,
ward sein Name vor dem Herrn der Geister genannt.
6
Zu diesem Zwecke ward er auserwählt
und vor Ihm verborgen,
bevor die Welt geschaffen wurde,
und er wird in Ewigkeit sein.

62. Kapitel
7
Denn von Anbeginn war der Menschensohn verborgen
und der Höchste bewahrte ihn in Gegenwart seiner Macht auf und offenbarte ihn den Auserwählten.

72. Kapitel
10
Bei ihnen war der Betagte;
sein Haupt war weiß und rein wie Wolle
und sein Gewand unbeschreibbar.
12
Diese Lobpreisungen, die aus meinem Munde kamen,
gefielen dem Betagten.

Was ist hier geschehen? Gott ist gealtert! Er ist nun ein "Betagter", ein "Greis" und sein "Haupt" ist "weiß wie Wolle". Gott ist im Rentenalter und es wird offenbar Zeit, die Amtsgeschäfte an seinen (Menschen-) Sohn abzugeben: "Zu diesem Zwecke ward er auserwählt und vor Ihm verborgen, bevor die Welt geschaffen wurde, und er wird in Ewigkeit sein." Halten wir fest: Im jüdischen Himmel des Henoch-Buches residieren also nun zwei Götter, ein alter, betagter, weißhaariger Tattergreis und sein jugendlich-frischer (Menschen-) Sohn.
Das Buch Daniel übernimmt das vom Henoch-Buch. Dort heißt es:
Dan 7,13/14: "Immer noch hatte ich die nächtlichen Visionen: Da kam mit den Wolken des Himmels / einer wie ein Menschensohn. Er gelangte bis zu dem Hochbetagten / und wurde vor ihn geführt. Ihm wurden Herrschaft, / Würde und Königtum gegeben. Alle Völker, Nationen und Sprachen / dienten ihm. Seine Herrschaft ist eine ewige, / unvergängliche Herrschaft. / Sein Reich geht niemals unter."

Etwa zur Entstehungszeit des Daniel-Buches kam es zu einem Ereignis am Jerusalemer Tempel, das den damaligen Juden eine neue Organisation, die Essener, bescheren sollte, die für die weitere Entwicklung des eschatologischen Geschehens in Judäa schwerwiegende Folgen hatte.
"Die Priesterschaft [am Jerusalemer Tempel] wurde einmal von zadoqidischen Priestern gebildet, die mit der ersten Gruppe von Heimkehrern aus Babylonien gekommen waren. Ferner kehrten mit Esra einige Priester zurück, die sich auf Itamar zurückführten (Esr 8,2) und daher wohl von Abjatar abstammten (vgl. I Sam 22,20; I Chr 24,3). Ein gewisser Ausgleich zwischen den beiden rivalisierenden Gruppen wurde dadurch erreicht, dass Aron zum gemeinsamen letzten Stammvater erklärt wurde; doch behielten die zadoqidischen Priester die führende Stellung."[19] Etwa um 150 v. Chr. wurde der zeitweilige Hohepriester, dessen Namen wir nicht kennen, von dem damaligen jüdischen Machthaber Jonatan aus dem Amt gedrängt und Jonatan erklärte sich selbst zum Hohenpriester. Zugleich ging Jonatan vom bisher verwendeten Sonnenkalender Ägyptens zu dem im seleukidischen Einflussbereich verwendeten Mondkalender über, der im Prinzip auf dem babylonischen Mondkalender fußt. Diese Maßnahmen stellten einen zerstörerischen Eingriff in das fragile Machtverhältnis unter der Jerusalemer Tempelpriesterschaft dar. Aus Protest sagten sich zadoqidische Gruppen vom Tempel los und bildeten die Gemeinde von Qumran am Nordwestzipfel des Toten Meeres.
Der aus dem Amt gedrängte Hohepriester bildete das Haupt der Gemeinde und nannte sich hinfort "Lehrer der Gerechtigkeit", die Gemeinde erhielt den Namen "Essener" (die "Reinen"). Ihr Ziel war, die Rechtmäßigkeit der Amtsinhaber des Hohenpriesteramtes am Jerusalemer Tempel sicherzustellen und die Rückkehr zum Sonnenkalender im Tempelkult.
Wie die gesamte nachexilische eschatologische Richtung waren auch die Essener felsenfest davon überzeugt, dass die Prophetenschriften samt und sonders von Gott inspiriert waren und Gottes Wort darstellten. Deshalb widmeten sie dem Studium der Prophetenschriften - wie die eschatologische Richtung überhaupt - größte Aufmerksamkeit.
"Eine besondere Einsicht des Lehrers der Gerechtigkeit bestand in der Auffassung, alles, was Gott die biblischen Propheten einst hatte niederschreiben lassen, habe sich von vornherein nie auf deren Zeitverhältnisse bezogen. Es seien vielmehr Weissagungen Gottes für die letzte Phase der Geschichte, jene Zeit also, die er gerade miterlebte."[20] "[...] er selbst und seine Anhänger [waren] fest davon überzeugt, in der letzten Phase der Weltgeschichte vor dem Endgericht Gottes und dem Anbruch der Heilszeit zu leben. Diese Wende zum Heil glaubten sie sogar so nahe, dass sie das künftige Auftreten des Messias aus dem Hause Davids in ihrer ältesten Gemeindeordnung [...] und in der liturgischen Segensordnung [...] bereits als fast schon gegenwärtig mitberücksichtigt haben." (Stegemann, S. 172)
"Dieses Schriftverständnis [...] hatte enorme Folgewirkungen. Es hat die Essener geprägt, solange sie bestanden haben. Johannes der Täufer, Jesus und das frühe Christentum haben es übernommen, allerdings dann ihre eigene Zeit als diejenige Phase der Geschichte betrachtet, der die alten Weissagungen der biblischen Propheten [wie sie alle glaubten] galten. [...]
Vor dem Lehrer der Gerechtigkeit hat niemand die biblischen Prophetenbücher in dieser aktuellen Bedeutung verstanden. Deren Aussagen wurden stets auf die Zukunft bezogen. Man wartete auf Verhältnisse, die von den Propheten [vermeintlich] ausdrücklich als erst künftig bevorstehend angekündigt worden waren. Dass man mitten in einer von den Propheten gleichsam wie für deren Gegenwart beschriebenen, aber diesen gegenüber künftigen Zeit lebte, war die folgenreichste Erkenntnis des Lehrers der Gerechtigkeit." (Stegemann, S. 172/3) Dann war es höchst wahrscheinlich, dass Gott durch die Propheten den Zeitpunkt des göttlichen Endgerichts und des Beginns der Heilszeit sowie die näheren Umstände seines Kommens in verschlüsselter, aber durchaus entschlüsselbarer Weise mitgeteilt hat. Es galt also, aus den Prophetenschriften dieses Datum und die Angaben zu den näheren Umständen der Endzeit aus den Prophetenschriften sozusagen herauszudestillieren.
Der Lehrer der Gerechtigkeit ging wohl davon aus, dass er das Kommen des Messias, das Endgericht und den Beginn der Heilzeit, das Reich Gottes, noch erleben werde. "'Als der Lehrer der Gerechtigkeit um 110 v. Chr. eines natürlichen Alterstodes starb, hatten sich seine Naherwartungen von Endgericht und Heilszeit sowie das Kommen des Messias noch nicht erfüllt.
Das setzte bei den Hinterbliebenen Denkprozesse in Gang, die zu einer Neuorientierung führten. Wenn die biblischen Propheten die gesamte letzte Phase der Weltgeschichte vorausblickend im Einzelnen beschrieben hatten, dann mussten sich in ihren Büchern auch Daten finden lassen, denen die Dauer dieser Zeitphase und der Termin des Endgerichts zu entnehmen war.' (Stegemann, S. 173)
Nun, die Essener errechneten als Termin des Endgerichts das Jahr 70 v. Chr. Als dieses Jahr verstrich und kein Endgericht eintrat, rechneten die Essener noch einmal nach, bemerkten einen Fehler in ihrer Rechnung und ermittelten nun das Jahr 70 n. Chr. für das Endgericht. Für die Endzeit bis zum Endgericht und dem Beginn der Heilszeit kamen sie auf einen Zeitraum von 40 Jahren (s. Stegemann, S. 288).
Obwohl die Essener zahlenmäßig nur einen geringen Prozentsatz der palästinischen Juden ausmachten - der jüdisch-römische Historiker Flavius Josephus schätzte sie 70 n. Chr. auf etwa 4000 (nach Stegemann, S. 194) -, war ihr geistiger Einfluss auf die jüdische Gesellschaft erheblich: Es gelang ihnen, dass die Idee vom baldigen Kommen des Messias und dem Gottesreich nahezu zum Allgemeingut des palästinischen Durchschnittsisraeliten wurde. Je näher das Jahr 70 n. Chr. kam, desto fiebriger wurde die intellektuelle Atmosphäre in weiten Schichten des Landes und sicherlich gerade auch bei der Jugend."[21]
Es ist daher gar nicht so verwunderlich, dass etwa 40 Jahre vor dem Jahr 70 n. Chr. - also im Jahr 28 oder 29 n. Chr. - am Ostufer des Jordans bei der Ortschaft Betanien ein Mann namens Johannes auftauchte, dessen Kleidung und Nahrung sonderbar wirkten (Mk 1,6): "Johannes trug ein Gewand aus Kamelhaaren und einen ledernen Gürtel um seine Hüften und er lebte von Heuschrecken und wildem Honig." Dieser Johannes, ein Mann aus einem Priestergeschlecht, hatte bemerkt, dass, wenn Gott bald persönlich bei seinem auserwählten Volk erscheinen würde, die Zahl derer, die sich aufgrund ihrer thora-gerechten Lebensführung sicher sein konnten, in Gottes Reich aufgenommen zu werden, vielleicht gerade einmal auf einige wenige Tausend belief (s. Stegemann, S. 194) - zu wenige, wie Johannes befand: Gott hatte ein umfangreicheres auserwähltes Volk in seinem kommenden Reich verdient (das wäre doch sonst für Gott geradezu blamabel, wenn ihm nur so ein kleines Häuflein die Treue gehalten hätte, und so bestand sogar die Gefahr, dass das Gott zu wenige sind und er deshalb gar nicht kommt...). Zum zweiten hieß es in den Prophetenschriften, dass vor dem Beginn der Endzeit, des Endkampfes, noch Elija zurückkehren müsse (Mal 3,23); vor dessen Wiedererscheinen konnte die Endzeit nicht beginnen.
Johannes zog daraus zwei Schlüsse: 1. Wenn es zu wenige Juden wären, die voraussichtlich in Gottes Reich kämen, dann musste er eben dafür sorgen, dass sich die Zahl derer, die 70 n. Chr. in Gottes Reich gelangten, spürbar erhöht; dazu bot dieser Johannes bei Betanien am Ostufer des Jordans die Jordan-Taufe an. 2. Er selbst, Johannes der Täufer, war der wiederkehrende Elija! "Nach 2 Könige 2,1-18 hatte der Prophet von Jericho aus genau an jener Stelle den Jordan trockenen Fußes durchschritten, wo einst das Volk Israel unter Josuas Führung in umgekehrter Richtung in das Heilige Land eingezogen war. Am Ostufer des Jordans erst 'erschien ein feuriger Wagen mit feurigen Pferden', den Elija bestieg und in dem er - ohne gestorben zu sein - 'im Wirbelsturm zum Himmel emporfuhr' (2 Kön 2,11).
Maleachi 3,23 nennt zwar nicht einen bestimmten Ort, wo Elija wiederkehren werde. Aber es lag nahe, die Wiederkehr am Ort seiner Himmelfahrt zu erwarten. So erklärt sich jedenfalls zwanglos, warum Johannes mit seiner Art, sich zu kleiden und sich zu ernähren, außer der Wüstensymbolik zugleich Elija-Eigenheiten demonstrierte: Sein Auftreten war zugleich die verheißene Wiederkehr des Elija." (Stegemann, S. 300/301)
Und genauso hat es auch Jesus begriffen (Mk 9,13): "Ich sage euch: Elija ist schon gekommen, doch sie haben mit ihm gemacht, was sie wollten, wie es in der Schrift steht." Mit dieser Sichtweise stand Jesus wahrlich nicht allein, "alle glaubten, dass Johannes wirklich ein Prophet war" (Mk 11,32).

Als Jesus, der junge Zimmermann, in seinem Kafarnaum von dem Wirken des Johannes erfuhr, war auch er bald davon überzeugt, dass Johannes der wiedergekehrte Elija sei, dass jetzt die Endzeit beginne, die in 40 Jahren - nach dem Abschluss des Endgerichts - mit der Wiedereröffnung des Paradiesgartens durch Gott enden werde. Welchen Sinn hatte es dann noch angesichts des bevorstehenden Jüngsten Tages, hier in Kafarnaum weiter herumzuwerkeln, wo doch jetzt die Endschlacht zur Niederringung des Bösen beginnen würde (s. Mk 13,5 - 37)? Sollte ausgerechnet er abseits stehen? Jesus entschloss sich, seine handwerkliche Tätigkeit in Kafarnaum an den Nagel zu hängen und sich dem Jüngerkreis um Johannes in Betanien anzuschließen.
Er ist von der Gestalt, der Ausstrahlung des Johannes überwältigt. Bald ist er fest in den Jüngerkreis des Propheten integriert, übernimmt Aufgaben, studiert in jeder freien Minute die Schriften. Er fühlt sich tatsächlich wie bei einer Heerschar vor der letzten, der entscheidenden Schlacht, vor dem Einzug in das von seinem Gott verheißene Gelobte Land. Vielleicht war Jesus der glühendste Anhänger des Johannes, vielleicht hat er das Kommen seines Gottes, seines "Vaters", am glühendsten herbeigesehnt.
Welch ein Schock musste es für ihn und die anderen Nazoräer gewesen sein, als Johannes verhaftet und eingekerkert wurde. Was nun? War alles nur eine kurzzeitige Illusion gewesen? Waren sie einem Hirngespinst hinterhergerannt? Oder war Johannes tatsächlich der wiedergekehrte Prophet, begann jetzt doch die vierzigjährige Endzeit, der Endkampf (s. Mk 13,5-37), der mit dem Sieg des Messias und seiner Truppen über das Böse und mit der Niederkunft des himmlischen Jerusalems auf die Erde enden würde?
Die verwaisten Nazoräer, wie die Anhänger des Johannes von der Bevölkerung genannt wurden, hatten sicherheitshalber die Jordanseite gewechselt, lebten "in der Wüste" zwischen Jordan und Jericho und diskutierten, wie es nun weitergehen sollte. Viele glaubten, Gott werde jetzt kommen, Elija/Johannes im Triumph aus Herodes Antipas' Kerker befreien und mit dem Messias an seiner Seite die Endzeit eröffnen; auf dieses Kommen Gottes gelte es zu warten. Einige waren mutlos geworden und begannen zu resignieren, andere wollten den Anschluss an die Essener, wieder andere waren einfach nur ratlos. Jesus war von allen der hitzigste, derjenige, der am glühendsten daran glaubte, dass jetzt das Reich Gottes angebrochen sei, dessen Kommen ihr verehrter Meister und Prophet Johannes prophezeit hatte.
Je mehr Zeit seit der Verhaftung des Johannes verstrich, desto verfahrener wurden die Diskussionen, desto kleiner wurde die Schar. Besonders die Überzeugung Jesu, Gott würde erst dann kommen, wenn Jesaja 52,13 - 53,12[22] erfüllt, wenn ein "Gottesknecht" für die Sünden des auserwählten Volkes gekreuzigt worden sei[23], sorgte für hitzige Debatten. Und wenn der Endkampf von einem Messias geleitet werden würde, dann musste dieser jetzt, jetzt kommen, - aber wo war er?
Bei Jesus bildete sich durch diese Diskussionen offenbar die Überzeugung heraus, dass einer, dass er einfach die Initiative ergreifen und sowohl die Bürde der Gottesknechtschaft als auch die Leitung des Endkampfes als Messias auf sich nehmen musste - sonst würde es sich Gott vielleicht doch anders überlegen und aus war's mit dem Paradies; vielleicht fühlte sich Jesus auch dazu von Gott auserwählt. Als Jesus sich den anderen anbietet, halten sie ihn für übergeschnappt: Er wollte sich tatsächlich in Jerusalem (als der "Gottesknecht" des Jesaja) kreuzigen lassen, dies würde das Kommen Gottes auslösen und dieser würde ihn vom Kreuz lösen und als Messias an seine Seite stellen, damit er den Kampf zur Niederringung der Mächte der Finsternis führe und leite? Jesus warb für diese Idee, aber keiner fand sich bereit, mit ihm diese Sache "durchzuziehen" - auch wenn sie Jesus noch so sehr mochten; sie versuchten Jesus diese Idee auszureden, aber Jesus blieb stur bei seiner Meinung.
Endlich verließ Jesus den Jüngerkreis und kehrte nach Kafarnaum zurück - nicht, um wieder in sein altes Leben zurückzukehren, sondern um unter seinen Jugendfreunden und Bekannten Helfer für sein Vorhaben anzuwerben. Ließ er sich zu Hause in seinem Familienkreis seine Veränderung kaum anmerken, so verbrachte er jetzt viel Zeit mit alten Freunden und Bekannten. Mit diesen konnte er nicht so offen reden wie mit seinen nazoräischen Genossen - sonst könnte er auch hier gleich mit deren Absage rechnen.
Entgegen kam ihm die Tatsache, dass auch sie die Überzeugungen der großen Masse der palästinischen Juden teilten: Die Essener könnten mit ihren Vorhersagen durchaus Recht haben, das Kommen eines Messias sei sehr wahrscheinlich und es könne nicht falsch sein, für diesen Fall auf der richtigen Seite zu sein. Jesus knüpfte daran an und es gelang ihm, eine ganze Reihe seiner Freunde und Bekannten für sein Vorhaben zu gewinnen: Bevor Gott persönlich erscheine, wolle dieser, dass alle erreichbaren Juden von dem Nahen ihres Gottes und seines Reiches informiert und zu Umkehr und Buße aufgerufen werden, also ihnen das "Evangelium" (= "die frohe Botschaft") verkündet werde, - auch den Juden in Galiläa und auch den jüdischen Gemeinden in den hellenisierten Städten im Norden Palästinas. Da der Prophet Johannes jetzt leider durch seinen Landesherrn ausgeschaltet blieb, müssten andere für ihn einspringen und sein Werk vollenden. Und da das Reich Gottes bereits angebrochen sei, gelte es, den Kampf gegen die Mächte der Finsternis entschlossen aufzunehmen. Das, so macht Jesus ihnen klar, sei das Gebot der Stunde und in den Augen ihres Gottes höchst verdienstvoll: Jesus verspricht ihnen, wenn sie alles verlassen und ihm nachfolgen (Mk 10,28), reiche Entlohnung (Mk 10,30): "[...] er [wird] Häuser, Brüder, Schwestern, Mütter, Kinder und Äcker erhalten [...] und in der kommenden Welt das ewige Leben." In der göttlichen Hierarchie erwarteten sie Logenplätze, ja, vielleicht würde Gott sie sogar als wichtige Helfer im Endgericht einsetzen (s. Mk 9,33/34 und Mk 10,35 - 37).
Damit konnte sie Jesus für seine Mission gewinnen und sie schlossen sich ihm an, insbesondere, wo Jesus ihnen versprochen hatte, dass die Endzeit beim kommenden Pessachfest sichtbar vor aller Augen beginnen werde. - Was er ihnen verschwiegen hatte, war, dass ihre Tour de Israel mit seiner Kreuzigung in Jerusalem enden würde. Hätte ihnen Jesus das schon von Anbeginn an gesagt, - er wäre wohl alleine losmarschiert. Und da er zu diesem Zeitpunkt selbst noch nicht völlig sicher war, ob ihn Gott tatsächlich als Messias ausersehen hatte, bewahrte er auch darüber Stillschweigen. Damit nahm Jesu Zug mit seinen Jüngern und bald auch mit seinen Anhängerinnen durch Palästina seinen Lauf.
Die Nazoräer, seine alten Genossen, hielten nicht nur weiter Kontakt untereinander und wurden von der palästinischen Öffentlichkeit weiterhin als Gruppe wahrgenommen (s. Mk 2,18; 6,29), sie verfolgten auch aufmerksam Jesu Zug: einmal, um ihn vielleicht doch noch vor seiner beabsichtigten Kreuzigung und seinem Tod bewahren zu können, zum anderen: Wer weiß, vielleicht hatte er ja doch Recht und alles kam so, wie er es erwartete - und dann konnte man an seiner Seite, an der Seite des Messias im Endkampf mitkämpfen.
Nachdem Jesus mit der Verkündigung des Evangeliums auch in Galiläa und im Norden Palästinas zusammen mit zwölf Helfern das Werk seines verhafteten Meisters Johannes zu Ende geführt hatte, zog er mit diesen Helfern und einigen Anhängerinnen im Jahr 30 n. Chr. zum Pessachfest nach Jerusalem und erreichte dort durch gezielte Provokationen gegenüber dem Tempel-Establishment seine Hinrichtung am Kreuz. Dabei war Jesus - offenbar gemäß Jes 52,13-53,12 - davon ausgegangen, dass Gott ihn nach erfolgter Kreuzigung als Messias vom Kreuz herabsteigen und die vierzigjährige Endzeit eröffnen lasse:

Jes 52,13: "Siehe, mein Knecht wird Erfolg haben, / er wird sich erheben und erhaben und sehr hoch sein."
Jes 53,10: "Doch der HERR hat Gefallen an dem von Krankheit Zermalmten. / Wenn du, Gott, sein Leben als Schuldopfer einsetzt, wird er Nachkommen sehen und lange leben. / Was dem HERRN gefällt, wird durch seine Hand gelingen."[26]

Als für seine nazoräischen Freunde klar geworden war, dass Jesus tatsächlich ernst machte, sannen sie auf seine (mögliche) Rettung: Sie bauten dabei auf die römische Sitte, dass bei Kreuzigungen eine Schale mit "Essig" (ein mit Wasser verdünnter saurer Wein (lat. posca)) und ein Schwamm bereitlagen, um dem Gekreuzigten mittels eines Stocks Flüssigkeit zuführen zu können. Sie tränkten vorher einen Schwamm mit einem "Schlaftrunk", wie er damals für Operationen verwendet wurde[28], trockneten ihn und zwei oder drei Nazoräer, die Jesus nicht bekannt waren, sollten unter dem Kreuz eine Gelegenheit nutzen, um Jesus den inzwischen mit dem "Essig" befeuchteten Schlafschwamm an den Mund zu halten.
Nachdem Jesus nun bereits sechs (halachische) Stunden am Kreuz gehangen hatte, aber offensichtlich nicht das geschehen war, was Jesus nach Deuterojesaja erwartet hatte, rief er in seiner Verzweiflung: "Eloi, Eloi, lema sabachtani?" (Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?), was für die Nazoräer unter dem Kreuz ein klares Indiz dafür war, dass Jesus sich geirrt hatte. Einer der Nazoräer befeuchtete daraufhin den präparierten Schwamm in der Schale und hielt ihn Jesus mittels des bereitliegenden Stocks an den Mund. Jesu trank offenbar davon, worauf er das Bewusstsein verlor (Mk 15,35-37). In diesem Zustand schafften sie ihn anschließend in ein Grab und kümmerten sich dort um seine Wiederbelebung. Wieder aus der Betäubung erwacht, hat Jesus seine "wunderbare" Errettung offenbar als Tat Gottes interpretiert, welcher ihm wohl doch die Rolle des Messias zugedacht habe. Die Nazoräer waren nun natürlich aus begreiflichen Gründen darauf bedacht gewesen, dass der hingerichtete Jesus untertaucht, dieser wollte aber vorher noch von seinen Jüngern Abschied nehmen. Bei diesem/n Treffen muss bei den Jüngern und Anhängerinnen der Eindruck entstanden sein, Jesus sei von den Toten auferstanden. Schließlich verabschiedete sich Jesus von ihnen mit der Maßgabe, er werde bald, sehr bald "mit den Wolken des Himmels" an der Seite "der Macht" (Dan 7,13; Mk 14,62) zu ihnen zurückkommen und mit ihnen den vierzigjährigen Endkampf eröffnen. Mit den die Rückkehr Jesu erwartenden Jüngern begann faktisch das Christentum.
Nachdem seine Jünger zunächst im Gebet passiv darauf gewartet hatten, dass Jesus "mit den Wolken des Himmels zur Rechten der Macht" wiederkehren werde und die vierzigjährige Endzeit beginnen würde, kamen sie, als diese Wiederkehr Jesu ausblieb, zur Überzeugung, ihr Messias Jesus erwarte vor seiner Wiederkehr, dass sie der jüdischen Mitwelt Jesus als den ersehnten Messias verkündeten und die Juden zum Glauben an den Messias Jesus brachten (Paulus weitet dies dann auch auf die "Heiden" aus). Da es aber lächerlich gewesen wäre, den Juden den Beginn der messianischen Endzeit zu verkünden, ohne diesen Messias vorweisen zu können, vertraten sie die Ansicht, Jesus halte sich vorläufig noch im Himmel bei seinem "Vater" auf (wozu er natürlich irgendwann vorher in den Himmel aufgefahren sein musste) und warte nur noch darauf, dass die Juden an ihn als Messias glaubten; dann werde er ganz gewiss ohne Verzug "mit den Wolken des Himmels zur Rechten der Macht" wiederkehren.
Diese Vorstellung näherte sich damit so sehr der himmlischen Gestalt des göttlichen "Menschensohns" des Henoch- und des Daniel-Buches an, dass es zu einer Identifikation Jesu mit dem göttlichen Heiland und Erlöser aus dem Henoch- und dem Daniel-Buch kam und somit aus dem Kafarnaumer Bauhandwerker Jesus der göttliche "Menschensohn" des Henoch- und des Daniel-Buches wurde. Während dieser Begriff im Markus- und im Johannesevangelium jeweils vierzehnmal verwendet wird, bei Lukas vierundzwanzigmal, kommt er im Matthäusevangelium sage und schreibe zweiunddreißigmal vor.
Da das Henoch-Buch den Ausgangspunkt einer Glaubensrichtung bildete, die später mit dem Begriff "Gnosis" (Erkenntnis) bezeichnet wurde, wurde Jesus auf diese Weise zur Galionsfigur einer neuen, einer gnostischen Religion, des Christentums, in dessen Theologie er als göttlicher Gottessohn von seinem Gottvater auf die Erde gesandt worden war, um den von Anbeginn der Welt Auserwählten ihre Auserwählung bewusst zu machen und ihnen den (Rück-) Weg in den Himmel zu Gott zu weisen (siehe das Johannesevangelium).

Fakt aber bleibt, dass die gesamte eschatologische Bewegung des Judentums spätestens mit dem Tod Bar Kochbas im Jahr 135 n. Chr. gescheitert war, dass sich ihre Ansichten von dem Kommen Gottes und der (Wieder-) Eröffnung seines Reiches im Gelobten Land als Hirngespinste erwiesen hatten. Der "Garten Eden", das Paradies, wurde damals nicht (wieder-) eröffnet und ist bis heute - 2000 Jahre später - immer noch nicht wiedereröffnet worden - was viele gläubige Juden nicht daran hindert, weiterhin unverzagt auf das Kommen eines Messias' und das Kommen von Gottes Reich im Gelobten Land zu warten.
Die Christen wie die Moslems verlegten das Reich Gottes und sein Paradies kurzerhand in den Himmel. Das kann keiner wirklich nachprüfen und den Gläubigen lässt sich leicht weismachen, sie seien Auserwählte und kämen nach ihrem Tod (natürlich bei gottgefälliger Lebensführung) in Gottes himmlisches Paradies. Und wer's glaubt - wird selig.

Anmerkungen

1. "Das Märchen vom Schlaraffenland" von Bechstein, Ludwig: Sämtliche Märchen. Stuttgart, Zürich, Salzburg: Europäischer Buchclub, [o. J.], S. 226-230; Text bearbeitet
2. Finkelstein, Israel und Silberman, Neil A.: Keine Posaunen vor Jericho. Die archäologische Wahrheit über die Bibel. München: C. H. Beck, 20033, S. 134/5
3. Ebenda, S. 123
4. Ebenda, S. 135
5. Ebenda, S. 136
6. Frühe Hochkulturen: Ägypter - Sumerer - Assyrer - Babylonier - Hethiter - Minoer - Phöniker - Perser (Theiss Illustrierte Weltgeschichte), hrsg. v. Rainer Albertz. Leipzig, Mannheim: F. A. Brockhaus 1997; Lizenzausgabe für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 286
7. Ebenda, S. 285
8. Aus: Martin, Wolfgang: Quo vadis, Israel?, veröffentlicht auf: www.bleib-nicht-dumm.de und unter: https://d-nb.info/1324411252/34
9. Aus: Martin, Wolfgang: Mit den Wolken des Himmels. Eine Geschichte der jüdischen Sehnsucht nach dem Reich Gottes (bis Bar Kochba). Berlin: Martin, Wolfgang, 2020, S. 36-39
10. Clauss, Manfred: Das alte Israel. Geschichte, Gesellschaft, Kultur. München: C. H. Beck, 20032, S. 56/7
11. Ebenda, S. 75
12. Ebenda
13. Ebenda, S. 76
14. S. ebenda, S. 77
15. Ebenda
16. Ebenda, S. 78
17. Aus: Martin, Wolfgang: Mit den Wolken des Himmels. Eine Geschichte der jüdischen Sehnsucht nach dem Reich Gottes (bis Bar Kochba). Berlin: Martin, Wolfgang, 2020, S. 81-83
18. https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%84thiopisches_Henochbuch (entnommen am 18.3.20)
19. Fohrer, Georg: Geschichte der israelitischen Religion. Berlin: Walter de Gruyter & Co, 1969, S. 393
20. Stegemann, Hartmut: Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus. Freiburg, Basel, Wien: Herder, 1993, S. 172
21. Martin, Wolfgang: Was Sie schon immer über Jesus wissen wollten. Berlin: Martin, Wolfgang, 2018, S. 25-27
22. Jes 52,13-53,12:
"52,13 Siehe, mein Knecht wird Erfolg haben, / er wird sich erheben und erhaben und sehr hoch sein. 14 Wie sich viele über dich entsetzt haben - / so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch, / seine Gestalt war nicht mehr die eines Menschen -, 15 so wird er viele Nationen entsühnen, / Könige schließen vor ihm ihren Mund. Denn was man ihnen noch nie erzählt hat, / das sehen sie nun; was sie niemals hörten, / das erfahren sie jetzt.
53,1 Wer hat geglaubt, was wir gehört haben? / Der Arm des HERRN - wem wurde er offenbar? 2 Vor seinen Augen wuchs er auf wie ein junger Spross, / wie ein Wurzeltrieb aus trockenem Boden. Er hatte keine schöne und edle Gestalt, / sodass wir ihn anschauen mochten. Er sah nicht so aus, / dass wir Gefallen fanden an ihm. 3 Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, / ein Mann voller Schmerzen, / mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, / war er verachtet; wir schätzten ihn nicht. 4 Aber er hat unsere Krankheit getragen / und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, / von ihm getroffen und gebeugt. 5 Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Vergehen, / wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Züchtigung auf ihm, / durch seine Wunden sind wir geheilt. 6 Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe, / jeder ging für sich seinen Weg. Doch der HERR ließ auf ihn treffen / die Schuld von uns allen. 7 Er wurde bedrängt und misshandelt, / aber er tat seinen Mund nicht auf. Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, / und wie ein Schaf vor seinen Scherern verstummt, / so tat auch er seinen Mund nicht auf. 8 Durch Haft und Gericht wurde er dahingerafft, / doch wen kümmerte sein Geschick? Er wurde vom Land der Lebenden abgeschnitten / und wegen der Vergehen meines Volkes zu Tode getroffen. 9 Bei den Frevlern gab man ihm sein Grab / und bei den Reichen seine Ruhestätte, obwohl er kein Unrecht getan hat / und kein trügerisches Wort in seinem Mund war. 10 Doch der HERR hat Gefallen an dem von Krankheit Zermalmten. / Wenn du, Gott, sein Leben als Schuldopfer einsetzt, wird er Nachkommen sehen und lange leben. / Was dem HERRN gefällt, wird durch seine Hand gelingen. 11 Nachdem er vieles ertrug, erblickt er das Licht. / Er sättigt sich an Erkenntnis. Mein Knecht, der gerechte, macht die Vielen gerecht; / er lädt ihre Schuld auf sich. 12 Deshalb gebe ich ihm Anteil unter den Großen / und mit Mächtigen teilt er die Beute, weil er sein Leben dem Tod preisgab / und sich unter die Abtrünnigen rechnen ließ. Er hob die Sünden der Vielen auf / und trat für die Abtrünnigen ein."
23. Innerhalb des Textes von Deuterojesaja ist an vier Stellen die Rede von einem Gottesknecht: Jes 42,1-9; Jes 49,1-9c; Jes 50,4-9 und Jes 52,13-53,12. Um zu verstehen, worum es in diesen sogenannten Gottesknechtsliedern geht, ist es unerlässlich, den historischen Hintergrund dieser Texte zu kennen:
Im Jahr 589 v. Chr. "rückten Truppen Nebukadzezars in Juda ein"[24] und eroberten 587/586 v. Chr. erneut Jerusalem. Die Stadt wurde samt Tempel vollständig zerstört und wieder "wurden Teile der Bevölkerung und der ländlichen Oberschicht [nach Babylon] deportiert" [25]. Diese Zeit des Babylonischen Exils sollte für die Verschleppten bis 538 v. Chr. dauern.
"Der Sieg des [Perserkönigs] Kyros über das neubabylonische Reich (538 v. Chr.) brachte den deportierten Judäern bzw. ihren Nachkommen die Möglichkeit, nach Palästina zurückzukehren. Denn nach dem Willen des neuen Herrschers sollte das persische Weltreich nicht mehr ein politisch-militärischer Verband unterjochter Völker unter der Führung eines Herrschervolkes, sondern ein durchgebildetes Staatswesen von gleichberechtigten Bürgern sein. Im Zuge dieser Politik erhielten unter anderen die Judäer die Erlaubnis zur Rückkehr in ihre Heimat. Kyros gestattete ihnen, die seinerzeit von Nebukadnezar nach Babylon gebrachten Tempelgeräte mitzunehmen, und ordnete den Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem auf Staatskosten an; dieser Teil des königlichen Edikts ist in der aramäischen Urgestalt in Esr 6,3-5 enthalten.
Nur ein Teil der in Babylonien lebenden Judäer machte von der Erlaubnis zur Heimkehr Gebrauch. Als Kommissar für das der Provinz Samarien als besonderes Gebiet beigegebene Juda setzten die Perser den Davididen Scheschbazar ein, der wohl noch beim wieder gefeierten Laubhüttenfest des Jahres 537 v. Chr. den Grundstein für den neuen Tempel gelegt hat. Außerdem wurde auf dem Tempelplatz ein Altar errichtet, sodass der Opferkultus in Gang kam, bevor der Tempel erbaut war. Scheschbazar und die anderen Heimkehrer stifteten Geld und Weihegaben für die Ausstattung des Tempels und für den Kultus; auch die in Babylonien Zurückgebliebenen hatten dazu beigesteuert. Obwohl der Tempel aus persischen Mitteln errichtet werden sollte, ergab sich doch eine gegenüber der Königszeit geänderte Situation. Der salomonische Tempel war königliches Eigentum gewesen, vom König errichtet und der Dynastie gehörig. Das Volk zahlte wohl Abgaben für seine Erhaltung, aber über ihre Verwendung verfügte wieder der König. Der Unterhalt des neuen Tempels dagegen sollte nach dem Wegfall des judäischen Königtums vom Volk finanziert werden und der Tempel ihm gehören, sodass an die Stelle des früheren Königs- und Staatstempels ein Volkstempel trat. Zugleich bildete der Hohepriester an Stelle des früheren Oberpriesters die Spitze der Hierarchie.
Jedoch die Verhältnisse in Juda gestalteten sich schwierig, teilweise offenbar chaotisch; von der angekündigten Heilszeit war nichts zu bemerken. Darüber gerieten die Arbeiten am Tempel bald ins Stocken, wenn sie überhaupt über die Grundsteinlegung und die Errichtung des Altars hinaus gediehen waren. Alle Rückkehrer waren voll damit beschäftigt, für sich selbst ein Haus zu schaffen und den Lebensunterhalt zu erwerben." (Fohrer, S. 338/9)
Auf diese historische Situation beziehen sich die vier Gottesknechtslieder von Deuterojesaja, vor diesem historischen Hintergrund lassen sie sich nun verstehen:
Mit der ersten Erwähnung des "Gottesknechts" ist Gesamt-Israel gemeint, also die Gesamtheit der Juden: "Du, mein Knecht Israel, du, Jakob, den ich erwählte, Nachkomme meines Freundes Abraham: Ich habe dich von den Enden der Erde geholt, aus ihrem äußersten Winkel habe ich dich gerufen. Ich habe zu dir gesagt: Du bist mein Knecht, ich habe dich erwählt und dich nicht verschmäht." (Jes 41,8/9)
Bereits das erste Lied vom "Gottesknecht" - so, wie dann auch alle folgenden "Gottesknechtlieder" - versteht unter diesem Begriff lediglich den aus dem babylonischen Exil nach Judäa zurückgekehrten Rest der exilierten Juden. Während sich in der Zeit des Exils in Judäa und Palästina alle möglichen Religionen und Götter finden und selbst bei vielen zurückgebliebenen Juden Jahwe kaum noch eine Rolle spielt, fühlten sich die Rückkehrer als jene, die für die Sünden aller Juden Sühne geleistet haben und jetzt als geläuterte Speerspitze ihres Gottes Jahwe, des einzig existierenden Gottes, in Jahwes Gelobtes Land, in seine Stadt Jerusalem zurückkehren. Sie fühlen sich als geistig-religiöse Elite ihres in Palästina "verwilderten" Volkes: Sie bringen "den Völkern das Recht" (Jes 42,1), "auf sein [Jahwes deuteronomisches] Gesetz warten die Inseln" (Jes 42,4), sie sind "das Licht für die Völker" (Jes 42,6) und öffnen ihnen die Augen (Jes 42,7): "Ich bin Jahwe, das ist mein Name, ich überlasse die Ehre, die mir gebührt, keinem andern (Jes 42,8) [...] Vor mir wurde kein Gott erschaffen und auch nach mir wird es keinen geben. Ich bin Jahwe, ich, und außer mir gibt es keinen Retter." (Jes 43,10/11)
Man kann davon ausgehen, dass die Rückkehrer von den Alteingesessenen in Palästina nicht gerade mit offenen Armen empfangen wurden: Deuterojesaja spricht von den Heimkehrern als "dem tief verachteten Mann, dem Abscheu der Leute, dem Knecht der Tyrannen [also der babylonischen Herrscher]". Und da nun diese abgerissenen Heimkehrer ihnen Jahwe als Siegergott, als den alleinigen Gott verkaufen wollen, entgegnen sie ("Zion sagt"): "Der Herr [also Jahwe] hat mich verlassen, Gott hat mich vergessen." (Jes 49,14)
Deuterojesaja argumentiert dagegen: "So spricht der Herr: Wo ist denn die Scheidungsurkunde, mit der ich eure Mutter fortgeschickt habe? Wo ist mein Gläubiger, dem ich euch verkauft habe?" (Jes 50,1) "Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: Ich [Jahwe] vergesse dich [Zion/Israel] nicht." (Jes 49,15) Und Deuterojesaja erklärt ihnen jetzt, warum sie Jahwe (vorübergehend scheinbar) verlassen hat: "Seht, wegen eurer bösen Taten wurdet ihr verkauft, wegen eurer Vergehen wurde eure Mutter fortgeschickt." (Jes 50,1)
Deuterojesaja macht das babylonische Los der heimgekehrten Exilgruppe möglicherweise schlimmer, als es wirklich war, vielleicht um bei den Alteingesessenen Mitleid zu erwecken und so die Akzeptanz für die Heimkehrer zu erhöhen: "Viele haben sich über ihn [den Gottesknecht] entsetzt, so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch [...]." (Jes 52,14) "Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet; wir schätzten ihn nicht. Aber er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt. Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt." Und so weiter. Da also die Exilanten für euer aller Sünden gebüßt haben, ist es nur mehr recht und billig, dass ihr sie akzeptiert und ihnen bei der Wiederansiedelung in ihrer alten Heimat helft: "Du sollst sie alle wie einen Schmuck anlegen, du sollst dich mit ihnen schmücken wie eine Braut." (Jes 49,18)
Während also Deuterojesaja seinen Begriff "Gottesknecht" als Personifikation Gesamt-Israels bzw. des nach Babylon verschleppten Teils Israels verstand, deutete Jesus nun den Begriff "Gottesknecht" als aktuelle Forderung seines Gottes Jahwe, eine tatsächliche Person müsse Sühne leisten für die Sünden seines auserwählten Volkes.
24. Siehe Clauss, Manfred: Das alte Israel. Geschichte, Gesellschaft, Kultur. München: Beck, 20032, S. 77
25. Ebenda, S. 78
26. Es gibt weitere Übereinstimmungen des tatsächlichen Geschehens mit Jes 52,13-53,12: Der "Hohe Rat" übergibt Jesus an Pontius Pilatus, den Prokurator der römischen Besatzungsmacht für Judäa; diesen interessiert nicht, ob sich Jesus für den Messias hält - das waren innerjüdische Kinkerlitzchen und in Fragen der jüdischen Religion war er ohnehin der Meinung, dass die Juden nicht alle Tassen im Schrank hätten. Also prüft er Jesus gleich unter dem Aspekt der angemaßten Königswürde und damit der Majestätsbeleidigung des römischen Kaisers, ein Verbrechen, das nach der Lex Julia, dem geltenden Recht, mit der Kreuzigung bestraft wird (Mk 15,2): "Bist du der König der Juden?" Will Jesus gekreuzigt werden - und er will -, muss er das nur bejahen, aber die Art und Weise, wie er das macht, zeigt, dass er nicht aufgrund eines politischen Delikts von der römischen Besatzungsmacht verurteilt werden will, sondern aus religiösen Gründen aufgrund der Anklage des jüdischen Hohen Rats - und damit besteht Übereinstimmung mit der Schrift, mit Jes 52,13 - 53,12. Er antwortet (Mk 15,2): "Du sagst es." "Man kann diese Antwort durch verschiedene Betonung verschieden interpretieren: Du sagst es; oder du sagst es."[27] Wenn Jesus sich als König der Juden deklarieren würde, so wäre damit auch die Bedeutung "Messias" enthalten - das aber geht Pilatus, den weltlichen Arm der römischen Besatzungsmacht, nichts an - deshalb gibt Jesus diese zweideutige Antwort. Auch in einem anderen Detail legt Jesus Wert auf Übereinstimmung mit dem Propheten Jesaia (Jes 53,7): "[...] er tat seinen Mund nicht auf [...]"; "Jesus aber gab keine Antwort mehr [...]." (Mk 15,5)
27. Ben-Chorin, Schalom: Bruder Jesus. Der Nazarener in jüdischer Sicht. München: Paul List Verlag, 1967, S. 197
28. Siehe dazu Daniel-Rops, Henri: Die Umwelt Jesu. Der Alltag in Palästina vor 2000 Jahren. München: dtv, 1980, S. 317

Kleines Begriffslexikon

Eschatologie: Religiöse Vorstellungen vom Endschicksal jedes einzelnen Menschen in Abhängigkeit von seinem Handeln sowie von dem Ende der bisherigen Welt und dem Beginn einer neuen Zeit für die Auserwählten, Gerechten, Guten, in der sie auf ewig mit Gott zusammenleben.

eschatologisch: Den erwarteten Weltuntergang, das Endgericht Gottes, das Kommen seines Reiches und die anschließende ewige Heilszeit betreffend.

Essener: Sie wurden etwa um 150 v. Chr. von dem zeitweiligen Hohenpriester, der sich "Lehrer der Gerechtigkeit" nannte und von dem jüdischen Machthaber Jonatan aus dem Amt gedrängt worden war, gegründet. Ihr Ziel war, die Rechtmäßigkeit der Amtsinhaber des Hohenpriesteramtes am Jerusalemer Tempel sicherzustellen und die Rückkehr zum Sonnenkalender im Tempelkult, denn Jonatan, der das Amt des Hohenpriesters widerrechtlich usurpiert hatte, war zum Mondkalender übergegangen. Die Essener bezogen auch die biblischen Propheten in die Gruppe der inspirierten Schriften mit ein. Sie verstanden die Weissagungen der Propheten als aktuelle Beschreibungen der Endzeit vor dem "Jüngsten Gericht", in der die Essener zu leben glaubten, und errechneten aus den Angaben der Propheten das Jahr, in dem sich das himmlische Jerusalem auf die Erde herabsenken und die 2. Paradieszeit beginnen sollte: 70 n. Chr.

Evangelium ("frohe Botschaft"): Botschaft Jesu: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist angebrochen, die Macht des Satans gebrochen, die Ankunft Gottes auf Erden im "Gelobten Land" (Israel) steht unmittelbar bevor; wer in Ewigkeit mit Gott im Paradies zusammensein möchte, sollte schleunigst "umkehren", seine Sünden bereuen und die Gebote (Thora) mit dem Herzen erfüllen.

Gelobtes Land: Das Gebiet, das Gott - nach Mose - seinem Volk Israel bei seinem Auszug aus Ägypten verheißen hat; als Kernraum gilt Judäa, während die weiteren Gebiete (z. B. Samaria [wobei die Samariter von Jesus offenbar nicht zu den Juden gerechnet werden] oder Galiläa) je nach realpolitischer Lage unterschiedliche Ausdehnungen hatten, sodass die Grenzen nicht klar definiert sind. Gottes Reich sollte nach damaliger jüdischer Ansicht auf dem Territorium des "Gelobten Landes" errichtet werden.

inspiriert: Gott hat mitunter das Bedürfnis, seinem Volk etwas mitzuteilen; dann bewegt er Autoren dazu, zwanghaft den von ihm gewünschten Text, seine Botschaft, aufzuschreiben; der Autor leiht Gott also nur seine Hand, seinen Stift, der Text stammt von Gott persönlich; diese Schrift nennt man "inspiriert".

Jüngster Tag: Die im Judentum ausgebildete und im Neuen Testament übernommene Vorstellung, dass die Geschichte der Menschheit am Jüngsten (letzten) Tag enden und nach einer Übergangszeit (Endzeit) durch ein Gericht Gottes beendet wird, das alle Menschen zur Rechenschaft über ihre vergangenen Taten zieht. (Brockhaus)

Lehrer der Gerechtigkeit: s. "Essener"

Messias ("der Gesalbte"; im Christentum auch "Christus"): Der von Gott aus dem Stamm David verheißene Erlöser, der die Herrlichkeit des nationalen Königtums erneuern, zugleich aber die allgemeine Verehrung des allein wahren Gottes auf Erden aufrichten sollte. (Brockhaus) Der Messias tritt vor dem Kommen Gottes auf, der sein ewig währendes Reich (= Paradies) auf der Erde errichten und für immer mit den gerechten und gewandelten Menschen zusammenleben wird.

Nazoräer (die Bewahrer): "Wegen dieser Bedeutsamkeit seiner Taufe [Gewähr der Sündenvergebung durch Gott im Endgericht] haben zeitgenössische Juden den Johannes und seine Anhänger etwas spöttisch "die Bewahrer" [die dich davor bewahren, im Endgericht von Gott verworfen zu werden] genannt, aramäisch n a z r é n oder - mit Artikel - n a z r á j j a, in griechischer Wiedergabe n a z a r e n o í bzw. n a z o r a i o i. Zur besseren Unterscheidung von vielen Gleichnamigen wurde deshalb Jesus "der Nazarener" [...] bzw. der "Nazoräer" [...] genannt, was ursprünglich gar nicht seine Herkunft "aus Nazaret" meinte [...], sondern seine Herkunft aus dem Täuferkreis oder seine Zugehörigkeit zu diesem." (Stegemann, S. 303/4)

Pessachfest: Das Pessachfest dauert eine Woche und ist wohl "aus der Verbindung eines Hirtenfestes mit einem zeitnahen Erntefest hervorgegangen [...], das nach der Einbringung der Wintergerste gefeiert wurde." (S. 92) "Pessach [war] in der Kulttradition Israels als Wallfahrtsfest verankert, zu dem die Bewohner des Landes nach Jerusalem pilgerten und dort im Zentralheiligtum [dem Tempel] Opfer darbrachten." (S. 92) Das Fest erinnert "an die Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft". "In der Zeit des Zweiten Tempels erfuhr die Theologie des Festes zugleich eine messianische Aufladung, indem die Gläubigen den Exodus auch als Hinweis auf ein zukünftiges Erlösungsgeschehen verstanden." (S. 92/3) Zitiert aus: Brämer, Andreas: Die 101 wichtigsten Fragen [zum] Judentum. München: Verlag C. H. Beck, 2010

Thora (Lehre, Gesetz): Die fünf Bücher Mose: Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri, Deuteronomium

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Impressum: Wolfgang Martin, Am Gemeindepark 26, 12249 Berlin

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