Wolfgang Martin


Bibeltexte richtig verstehen:
Schöpfungsmythos und Evolutionstheorie


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Der Text findet sich auch unter: https://d-nb.info/1366003853/34


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Vorwort

Die Idee zu diesem Aufsatz kam mir nach der Lektüre des 1. Kapitels von Richard Dawkins' Buch "Die Schöpfungslüge. Warum Darwin recht hat".[1]

Der Verfasser

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Genesis 1,1-2,4a:
"1,1 Im Anfang erschuf Gott Himmel und Erde. 2 Die Erde war wüst und wirr und Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. 3 Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht. 4 Gott sah, dass das Licht gut war. Und Gott schied das Licht von der Finsternis. 5 Und Gott nannte das Licht Tag und die Finsternis nannte er Nacht. Es wurde Abend und es wurde Morgen: erster Tag. 6 Dann sprach Gott: Es werde ein Gewölbe mitten im Wasser und scheide Wasser von Wasser. 7 Gott machte das Gewölbe und schied das Wasser unterhalb des Gewölbes vom Wasser oberhalb des Gewölbes. Und so geschah es. 8 Und Gott nannte das Gewölbe Himmel. Es wurde Abend und es wurde Morgen: zweiter Tag. 9 Dann sprach Gott: Es sammle sich das Wasser unterhalb des Himmels an einem Ort und das Trockene werde sichtbar. Und so geschah es. 10 Und Gott nannte das Trockene Land und die Ansammlung des Wassers nannte er Meer. Gott sah, dass es gut war. 11 Dann sprach Gott: Die Erde lasse junges Grün sprießen, Gewächs, das Samen bildet, Fruchtbäume, die nach ihrer Art Früchte tragen mit Samen darin auf der Erde. Und so geschah es. 12 Die Erde brachte junges Grün hervor, Gewächs, das Samen nach seiner Art bildet, und Bäume, die Früchte tragen mit Samen darin nach ihrer Art. Gott sah, dass es gut war. 13 Es wurde Abend und es wurde Morgen: dritter Tag. 14 Dann sprach Gott: Lichter sollen am Himmelsgewölbe sein, um Tag und Nacht zu scheiden. Sie sollen als Zeichen für Festzeiten, für Tage und Jahre dienen. 15 Sie sollen Lichter am Himmelsgewölbe sein, um über die Erde hin zu leuchten. Und so geschah es. 16 Gott machte die beiden großen Lichter, das große zur Herrschaft über den Tag, das kleine zur Herrschaft über die Nacht, und die Sterne. 17 Gott setzte sie an das Himmelsgewölbe, damit sie über die Erde leuchten, 18 über Tag und Nacht herrschen und das Licht von der Finsternis scheiden. Gott sah, dass es gut war. 19 Es wurde Abend und es wurde Morgen: vierter Tag. 20 Dann sprach Gott: Das Wasser wimmle von Schwärmen lebendiger Wesen und Vögel sollen über der Erde am Himmelsgewölbe fliegen. 21 Und Gott erschuf die großen Wassertiere und alle Lebewesen, die sich fortbewegen nach ihrer Art, von denen das Wasser wimmelt, und alle gefiederten Vögel nach ihrer Art. Gott sah, dass es gut war. 22 Gott segnete sie und sprach: Seid fruchtbar und mehrt euch! Füllt das Wasser im Meer und die Vögel sollen sich auf Erden vermehren. 23 Es wurde Abend und es wurde Morgen: fünfter Tag. 24 Dann sprach Gott: Die Erde bringe Lebewesen aller Art hervor, von Vieh, von Kriechtieren und von Wildtieren der Erde nach ihrer Art. Und so geschah es. 25 Gott machte die Wildtiere der Erde nach ihrer Art, das Vieh nach seiner Art und alle Kriechtiere auf dem Erdboden nach ihrer Art. Gott sah, dass es gut war. 26 Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Bild, uns ähnlich! Sie sollen walten über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere, die auf der Erde kriechen. 27 Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie. 28 Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehrt euch, füllt die Erde und unterwerft sie und waltet über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die auf der Erde kriechen! 29 Dann sprach Gott: Siehe, ich gebe euch alles Gewächs, das Samen bildet auf der ganzen Erde, und alle Bäume, die Früchte tragen mit Samen darin. Euch sollen sie zur Nahrung dienen. 30 Allen Tieren der Erde, allen Vögeln des Himmels und allem, was auf der Erde kriecht, das Lebensatem in sich hat, gebe ich alles grüne Gewächs zur Nahrung. Und so geschah es. 31 Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Und siehe, es war sehr gut. Es wurde Abend und es wurde Morgen: der sechste Tag. 2,1 So wurden Himmel und Erde und ihr ganzes Heer vollendet. 2 Am siebten Tag vollendete Gott das Werk, das er gemacht hatte, und er ruhte am siebten Tag, nachdem er sein ganzes Werk gemacht hatte. 3 Und Gott segnete den siebten Tag und heiligte ihn; denn an ihm ruhte Gott, nachdem er das ganze Werk erschaffen hatte."

Genesis 2,4b-25:
"2,4 Das ist die Geschichte der Entstehung von Himmel und Erde, als sie erschaffen wurden. Zur Zeit, als Gott, der HERR, Erde und Himmel machte, 5 gab es auf der Erde noch keine Feldsträucher und wuchsen noch keine Feldpflanzen, denn Gott, der HERR, hatte es auf die Erde noch nicht regnen lassen und es gab noch keinen Menschen, der den Erdboden bearbeitete, 6 aber Feuchtigkeit stieg aus der Erde auf und tränkte die ganze Fläche des Erdbodens. 7 Da formte Gott, der HERR, den Menschen, Staub vom Erdboden, und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen. 8 Dann pflanzte Gott, der HERR, in Eden, im Osten, einen Garten und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte. 9 Gott, der HERR, ließ aus dem Erdboden allerlei Bäume wachsen, begehrenswert anzusehen und köstlich zu essen, in der Mitte des Gartens aber den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. 10 Ein Strom entspringt in Eden, der den Garten bewässert; dort teilt er sich und wird zu vier Hauptflüssen. 11 Der Name des ersten ist Pischon; er ist es, der das ganze Land Hawila umfließt, wo es Gold gibt. 12 Das Gold jenes Landes ist gut; dort gibt es Bdelliumharz und Karneolsteine. 13 Der Name des zweiten Stromes ist Gihon; er ist es, der das ganze Land Kusch umfließt. 14 Der Name des dritten Stromes ist Tigris; er ist es, der östlich an Assur vorbeifließt. Der vierte Strom ist der Eufrat. 15 Gott, der HERR, nahm den Menschen und gab ihm seinen Wohnsitz im Garten von Eden, damit er ihn bearbeite und hüte. 16 Dann gebot Gott, der HERR, dem Menschen: Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, 17 doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn am Tag, da du davon isst, wirst du sterben. 18 Dann sprach Gott, der HERR: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm ebenbürtig ist. 19 Gott, der HERR, formte aus dem Erdboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und führte sie dem Menschen zu, um zu sehen, wie er sie benennen würde. Und wie der Mensch jedes lebendige Wesen benannte, so sollte sein Name sein. 20 Der Mensch gab Namen allem Vieh, den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes. Aber eine Hilfe, die dem Menschen ebenbürtig war, fand er nicht. 21 Da ließ Gott, der HERR, einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, sodass er einschlief, nahm eine seiner Rippen und verschloss ihre Stelle mit Fleisch. 22 Gott, der HERR, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu. 23 Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein / und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie genannt werden; / denn vom Mann ist sie genommen. 24 Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und hängt seiner Frau an und sie werden ein Fleisch. 25 Beide, der Mensch und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander."

Der Text in der Bibel (s. o.) schildert die Erschaffung der Welt durch Gott. Dieser Text wurde - wie alle Texte - von (einem) Menschen verfasst. Nach der ersten Version (Gen 1,1-2,4a) wurde der Mensch am 6. Tag von Gott erschaffen; der Mensch kann daher die ersten fünf Schöpfungstage nicht miterlebt haben. Woher wusste also der Verfasser dieses Textes, was in den ersten fünf Schöpfungstagen geschehen ist? Die Antwort der Kirche lautet: Gott hat dem Verfasser diesen Text eingegeben; der Autor war also ein Medium, über welches Gott den Menschen etwas mitgeteilt hat, er war von Gott inspiriert. Dann war das logischerweise das Wort Gottes und das Wort Gottes kann nur heilig sein; also war der Text heilig und ebenso das Buch, in welchem diese göttlichen Texte standen - es war die Heilige Schrift, die Bibel. Im 18. und 19. Jahrhundert traten Wissenschaftler auf - Lamarck und insbesondere Darwin -, die von einer Evolution der Lebewelt ausgingen, die sich über Jahrmillionen erstreckt haben musste. Dagegen war die Welt nach den Berechnungen von James Ussher (1581-1656), Primas der anglikanischen Kirche, der einer der führenden Gelehrten des 17. Jahrhunderts war, von Gott am 23.10.4004 v. Chr. erschaffen worden[2]. Dabei hatte sich Ussher auf den Text der Bibel gestützt und seinem Ergebnis konnte man durchaus keine Rechenfehler unterstellen. Wenn nun die Bibel Gottes Wort ist, dann musste Ussher Recht haben, denn hätte Ussher nicht Recht, hätte Gott gelogen oder die Menschen verarscht oder was auch immer. Die Kirche sah das Problem, sah den Widerspruch zwischen der Evolutionshypothese Darwins und der Darstellung in der Bibel, und es ist ziemlich verständlich, dass sich die Vertreter der Kirche, für welche die Bibel das Wort Gottes ist, auf die Seite des Bibeltextes schlugen. Tatsächlich hat die Kirche viele Jahrhunderte lang darauf bestanden, dass die Welt genauso entstanden ist, wie der Bibeltext es schildert.
Aber die Zeit schritt voran und die Wissenschaftler fanden immer mehr Tatsachen, welche aus der Evolutionshypothese die Evolutionstheorie machten. Die Hinweise auf die Richtigkeit der Evolutionshypothese waren mit der Zeit so zahlreich geworden, dass der Kirche klar wurde, dass sie ein weiteres Leugnen der Richtigkeit der Evolutionstheorie in eine peinliche Sackgasse führen musste - sie hatte aus dem Kasus Galilei gelernt. Heute trägt sie keine Attacken mehr gegen Darwin vor und hält seine Evolutionstheorie für vereinbar mit den Lehren der Kirche. Das bedingte jedoch zwangsläufig, dass man den Bibeltext anders interpretieren musste: Der Text sei nicht wörtlich zu verstehen, man müsse ihn metaphorisch auffassen. Diese neue Sichtweise wirft jedoch eine ganze Reihe von Fragen auf: Wollte Gott selbst seine dem Schreiber eingegebenen Worte metaphorisch verstanden wissen? Warum hat er dann dem Schreiber nicht gleich Klartext eingegeben? Geht man davon aus, dass dem damaligen menschlichen Schöpfer dieser Texte beim Schreiben nicht bewusst war, dass ihm diese Texte von Gott eingegeben wurden, so stellt sich die Frage, ob der Autor seinen Text wörtlich verstanden wissen wollte oder ob sein Text von vornherein metaphorischen Charakter hatte.
Tatsache ist, dass in den verschiedenen Kulturkreisen der Menschheit jeweils unterschiedliche Schöpfungsmythen entstanden sind[3]: Nach "der sumerischen Religion erschuf die Göttin Nammu, die das Urmeer darstellte, zuerst die Erdgöttin Uras und den Himmelsgott An. Aus ihnen gingen zahlreiche weitere Götter hervor. [...] In der Schöpfungsgeschichte der Maori Neuseelands sind der Himmel Rangi und die Mutter Erde Papa die Begründer der Welt. [...] Laut dem im Mittelalter verfassten nordgermanischen Edda-Lied Voluspa war am Anfang das Nichts, in dem es weder Erde noch 'Aufhimmel' gab. Dort lebte der Urzeitriese Ymir, aus dessen Achselschweiß ein Mann und eine Frau und aus dessen Füßen das Geschlecht der Riesen entstand. Ymir wurde nach einem anderen Lied von der aus schmelzendem Eis geborenen Urzeitkuh Auðhumla genährt, die gleichzeitig aus einem salzigen Stein Buri, den Stammvater der Götter, freileckte." Diese Aufzählung von Schöpfungsmythen der Menschheit ließe sich noch seitenlang fortsetzen. Die Schöpfungsgeschichte der Bibel ist also lediglich eine von vielen, und nichts, aber auch gar nichts hebt diese aus der Menge der anderen Mythen heraus. Entweder hat Gott alle diese Mythen inspiriert oder gar keine. Ich gehe davon aus, dass keiner dieser vielen Mythen von irgendeinem Gott inspiriert wurde, dass all diese Geschichten der Fantasie irgendwelcher Menschen entsprungen sind, genauso wie die Idee, es gebe so etwas wie einen Gott.
Wenn wir uns also die Frage stellen, wie solch ein fantasiebegabter Erzähler seinen Text verstanden wissen wollte, dann sollten wir uns zunächst den Schaffensprozess näher ansehen, der solche Geschichten hervorbrachte. Gehen wir zu diesem Zweck zurück in die graue Vorzeit, "begeben [...] uns [...] ans Lagerfeuer unserer steinzeitlichen Vorfahren und lauschen den Geschichten der Großmutter. Sie erzählt gerade, wie die Welt entstanden ist. Die Kinder lauschen gebannt und nehmen begierig jedes Wort der Alten auf. Woher weiß die Großmutter das? War sie denn bei der Entstehung der Welt dabei? Wohl kaum. Hat ihr das der Schöpfergott ins Ohr geflüstert? Wohl kaum. - Sie hat die Geschichte schlicht und einfach von ihrem Großvater, der sie am Lagerfeuer erzählt hat, als sie selbst als Kind gebannt seinen Worten lauschte. Und dieser hat sie wiederum von seinem Großvater, der... - Gehen wir weiter zurück in der Stammesgeschichte, so werden wir irgendwann auf den Urheber dieser Geschichte stoßen: einen Menschen mit einer lebhaften Fantasie und einem ausgesprochenen Talent zum Geschichtenerzählen. Der hat die Geschichte in die Welt gesetzt und die anderen haben sie wieder der nächsten Generation weitererzählt und so fort.
Nun sollte man nicht glauben, dass die Geschichte stets wortwörtlich korrekt weitergegeben wurde. Variationen schlichen sich ein; Ideen nachfolgender Erzähler veränderten die Geschichte: Neue Personen wurden eingeführt, andere verschwanden; einer hatte den Schalk im Nacken und gab der Geschichte eine witzige Wendung; ein anderer wollte dem Nachbarstamm eins auswischen und ließ deren Vorfahren von den Hunden abstammen; wieder ein anderer wollte mit seinen Urahnen angeben und blähte sie zu Helden auf, die unglaubliche Taten vollbracht haben; einer seiner Ahnen sei sogar in den Himmel aufgenommen worden... Auf diese Weise formten sich über die Generationen die Mythen eines Stammes, die religiösen Mythen, die Religion."[4]
Fassen wir hier kurz zusammen: Keiner war dabei, als es mit der Welt losging, ja, niemand kann wissen, ob es überhaupt einen Anfang gab; selbst ob es einen Gott gibt, kann niemand mit Bestimmtheit sagen, denn keinem ist je so etwas wie ein Gott über den Weg gelaufen, auch wenn es in der Menschheitsgeschichte Fantasten, Lügner und Aufschneider zuhauf gab und gibt, die ihren Mitmenschen so etwas vorflunkern. Das heißt zum einen, dass ein großer Teil der biblischen Texte dem Bereich der Belletristik zuzuordnen ist, es sind also erfundene Geschichten, wie eben auch die biblische Schöpfungsgeschichte, zum anderen tritt neben die Lust, anderen Menschen Geschichten zu erzählen, bald auch die Nutzung dieser Texte, um dem Erzähler oder der Gruppe, welcher er angehört, Vorteile zu verschaffen. Dort, wo die Texte von Schamanen oder Priestern tradiert werden, beobachten wir die Neigung, ihre Vorrechte, ihr Einkommen und ihre herausragende gesellschaftliche Stellung in diesen Texten festzuschreiben: Man modelliert die Götter oder den einen Gott so, dass es dem Vorteil der Priesterschaft nutzt, und legt ihm auch alles in den Mund, was den eigennützigen Interessen der priesterlichen Literaten dienlich ist. "Und um ihre Pfründe und ihre Macht für sich und ihre Nachkommen auf 'ewig' zu sichern, erklären Priestergeschlechter dreist, all diese schriftlich (von ihnen) fixierten Texte hätte Gott den Schreibern eingegeben, sie seien von Gott inspiriert worden und deshalb seien diese Texte Worte Gottes und daher seien diese Texte 'heilige Bücher', an denen irgendetwas zu verändern sich ja niemand unterstehen solle. 'Auf vergleichbare Art autorisieren viele Mythen bestimmte Gruppen, Institutionen, soziale Rangordnungen, Gesetze und Riten, moralische Regeln, Werte und Glaubensvorstellungen. In aller Welt erklären und sanktionieren Mythen Verwandtschaftsbeziehungen, Heiratsbräuche, Jagdtechniken und Viehzucht, Kunst und Kriegsführung, Opferriten, die Herrschaft von Königen und Häuptlingen, die Abhängigkeit der Frau und zahlreiche andere Aspekte der Gesellschaftsstruktur. Sie üben eine wichtige moralische Funktion aus und liefern Unterscheidungskriterien zwischen angemessenen und unangemessenen Verhaltensweisen. Einige wirken auch als ungeschriebene Eigentumsurkunden, die den Anspruch eines Volkes auf sein Territorium rechtfertigen. Wieder andere werden in den Dienst politischer Zielsetzungen eines Regimes, einer Aristokratenschicht oder einer Priesterkaste gestellt, wie etwa in Ägypten, Rom und Japan, bei den Azteken oder den Inka.'"[5]
Wir müssen also vermuten, dass der oder die Verfasser der Schöpfungsgeschichte(n) in der Bibel diese genauso ernst und für bare Münze genommen haben wie Rowling ihre Harry-Potter-Geschichten. Anders ist dies bei jenen, welche diese Geschichten tradiert haben, insbesondere dann, wenn diese Geschichten Ausdruck ihrer Religion wurden: Je "heiliger" die Texte wurden und die Bücher, in denen diese standen, desto ehrfürchtiger und gläubiger wurden sie von den folgenden Generationen rezipiert, desto überzeugter war man, es würde sich bei diesen Geschichten um wahre Begebenheiten handeln. Genau diesen Fall haben wir auch bei der Schöpfungsgeschichte in der Bibel vorliegen. Die Kirche bestand lange, lange Jahrhunderte im Brustton der Überzeugung darauf, dass sich die Schöpfung genauso abgespielt habe, wie es aus dem Schöpfungsbericht hervorgeht.
Nun, wie gesagt, seit Lamarck und Darwin hat die Kirche nach langwierigen, zähen Rückzugsgefechten diese Ansicht revidiert: Diese Texte seien metaphorisch zu verstehen, ihre inhaltliche Aussage lasse sich also nur durch eine entsprechende Interpretation erschließen. Und da es in der Bibel viele Texte gibt, denen der gesunde Menschenverstand misstraut (man denke nur an die Himmelfahrten und Totenerweckungen), gilt es in kirchlichen Kreisen weitgehend als ausgemacht, dass man fast alle Bibeltexte mataphorisch aufzufassen habe. Welche exotischen Früchte diese Auffassung hervorbringen kann, sei an folgendem Beispiel erläutert:
Unter anderem in Ex 26,15-28 wird die Anleitung zum Bau der Stiftshütte (Wohnstatt Gottes) gegeben:

"15 Mach für die Wohnung Bretter aus Akazienholz zum Aufstellen! 16 Jedes Brett soll zehn Ellen lang und anderthalb Ellen breit sein; 17 jedes Brett soll durch zwei Zapfen mit dem nächsten verbunden werden. So mach es mit allen Brettern der Wohnung! 18 An Brettern für die Wohnung verfertige zwanzig für die Südseite! 19 Stell vierzig Sockel aus Silber her als Unterlage für die zwanzig Bretter, je zwei Sockel als Unterlage eines Brettes für seine beiden Zapfen! 20 Für die zweite Seite der Wohnung, die Nordseite, ebenfalls zwanzig Bretter 21 und vierzig Sockel aus Silber, je zwei Sockel als Unterlage eines Brettes. 22 Für die Rückseite der Wohnung, die Westseite, verfertige sechs Bretter 23 und zwei Bretter stell für die Eckstücke an der Rückseite der Wohnung her! 24 Sie sollen einander entsprechen und von unten bis oben zum ersten Ring reichen. So soll es mit den beiden Brettern geschehen, die die Eckstücke bilden. 25 Acht Bretter und sechzehn Sockel aus Silber sollen vorhanden sein, je zwei Sockel als Unterlage für jedes Brett. 26 Verfertige Querlatten aus Akazienholz, fünf für die Bretter auf der einen Seite der Wohnung, 27 fünf für die Bretter der zweiten Seite der Wohnung und fünf für die Bretter der Rückseite der Wohnung, der Westseite! 28 Die mittlere Querlatte soll in der Mitte der Bretter angebracht werden und von einem Ende zum andern reichen."

Dieser Text wurde nun von einem Prediger (A. J. Pollock) folgendermaßen interpretiert[6]:

"Die aufrecht stehenden Bretter
Die Bretter wurden aus Akazienholz gemacht, aufrecht stehend. Akazienholz ist ein Bild vom Menschentum. Im Fall des hoch gelobten Herrn war Sein Menschentum makellos und sündlos, sonst hätte Er nicht unseren Platz am Kreuz einnehmen können. Was uns betrifft, wir sind gefallen und sündig. Wie kann denn in unserem Fall das Brett aufrecht stehend sein? Mit anderen Worten: Wie kann ein schuldiger Sünder vor einem heiligen Gott stehen?
Die Bretter waren 10 Ellen hoch und 1½ Ellen breit, das ist 5,00m Länge und ca. 0,75m Breite. Sie wurden aus Akazienholz gemacht, dem groben, unverwüstlichen Holz der Wüste, das sehr wenig wert, aber außerordentlich schwer ist. Wie sollten die Bretter auf dem nachgiebigen Sand aufrecht stehen? Ach! Wie viele Sünder versuchen, aufrecht vor Gott zu stehen, und das auf dem nachgiebigen Sand guter Werke und Selbstverbesserung, als ob der Mensch sein eigener Erlöser sein könnte!
Die Bretter waren 10 Ellen lang. Fünf ist die Zahl menschlicher Verantwortung; zehn (2 x 5) verstärkt den Gedanken der Verantwortung gegenüber Gott, der Verantwortung gegenüber des Mitmenschen. Heutzutage lieben die Menschen diesen Gedanken nicht, aber er ist da, unabhängig von dem, was die Menschen denken mögen. 'So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben' (Röm 14,12)."

Mit demselben Recht könnte ich auch die Bedienungsanleitung meines Radioweckers metaphorisch verstehen und entsprechend interpretieren. Fakt ist, dass die Texte in der Bibel von den unterschiedlichsten Autoren unterschiedlichster Epochen aus den unterschiedlichsten Intentionen heraus kreiert wurden. Hinzu kommen dann noch redaktionelle Eingriffe, Hinzufügungen, Weglassungen und Umstellungen späterer Bearbeiter, die ein speziell auf den jeweils konkret vorliegenden Text abgestimmtes Vorgehen beim Interpretieren erfordern. Es gibt nun einmal in der Bibel neben genauen Bauanleitungen für Stiftshütten auch Texte eines Daniel oder Apokalypsen wie die "Offenbarung des Johannes", neben Märchen wie das von Noah und seiner Arche auch Geschichtstexte wie das Buch Esra, neben fiktiven Biografien wie das Buch Hiob auch solche wie das Markusevangelium.
Wenn man die Aussageabsicht des Verfassers eines Textes ermitteln möchte, ist es nahezu unerlässlich, Näheres zu der Person des Autors, seinen Lebensumständen und seiner Vita sowie dem zeitgeschichtlichen Hintergrund seines literarischen Schaffens zu kennen. So ist es auch bei den Texten der Bibel. Allein diese Vielzahl an Informationen ermöglicht eine möglichst präzise Erfassung der Intention eines infrage stehenden Textes. Es ist nun einmal bei den biblischen Texten unabdingbar, bei der Textinterpretation Manipulationen Zweiter und Dritter in Rechnung zu stellen, von einer hemmungslosen Willkür der Autoren im Umgang mit Texten und von möglichen (Ver-) Fälschungen, Verdrehungen und offenkundigen Lügen auszugehen. War da ein Prophetentext, der bereits eine gewisse Autorität besaß, hatten spätere Autoren keinerlei Hemmungen, in diesen Text eigene Texte einzuschieben, um die Autorität des bereits existierenden Textes für ihre literarischen Produkte zu nutzen, und das alles, ohne diese Einschübe irgendwie kenntlich zu machen. So war es auch damals viele Jahrhunderte lang gang und gäbe, einer literarisch fixierten Person, die einem bestimmten Personenkreis als hohe Autorität galt, wie zum Beispiel bei den Juden Moses oder - bei den Christen - Jesus, alles Mögliche in den Mund zu legen, wobei es oftmals so offenkundig ist, dass diese Person aus einleuchtenden Gründen das in den Mund Gelegte nicht gesagt haben kann, dass sich vermuten lässt, dass die damaligen Rezipienten dieser Texte auch gar nicht unbedingt von deren Authentizität ausgegangen sind.
Diese komplexe, komplizierte Gemengelage bei biblischen Texten würde an sich schon ausreichen, einen wissenschaftlich arbeitenden Bibelforscher verzweifeln zu lassen, dort aber, wo gläubige Theologen um das richtige Verständnis von Bibeltexten ringen, kommen ja noch die dogmatischen Gitterstäbe einer abstrusen Theologie hinzu, welche zu ihrer Darstellung einen siebenhundertsiebzehnseitigen Katechismus erforderlich macht[7]. Und da verwundert kaum noch, wenn es zum Beispiel über den deutschen Theologen Hans Graß (1909-1994) bei Wikipedia heißt[8]: "Hans Graß beschäftigte sich sehr gründlich mit den Auferstehungs- und Grab-Berichten und setzt den Echtheitswert der Darstellung in den vier Evangelien fast gleich Null: Selbst wenn es gelänge, alle legendären Bildungen und Wucherungen abzuziehen, so würde sich doch kein Kern herausschälen lassen, von dem gesagt werden könnte, er spiegle die ursprünglichen Ereignisse in ihrer Abfolge und in ihren Umständen einigermaßen klar, eindeutig und einleuchtend wider."
Dort, wo sich die herkömmliche kirchliche Interpretation "des Wortes Gottes" im Zuge weiterer Forschungen eindeutig als falsch erwiesen hat, flüchten kirchlich etablierte Theologen allzu gern in die Feststellung, die infrage stehenden Texte seien eben metaphorisch zu verstehen. Vor diesem Hintergrund sollte es der Kirche heute noch hochpeinlich sein, dass sie Jahrhunderte lang darauf bestand, der Schöpfungsbericht des Buches Genesis (s. o.) sei wörtlich zu nehmen, die Welt sei genau auf die dort geschilderte Weise von Gott erschaffen worden.
Dem zum Trotz gibt es aber heute immer noch oder immer wieder Leute, die darauf pochen, solche biblischen Texte wie der Schöpfungsbericht im Buch Genesis seien buchstäblich "das heilige Wort Gottes" und deshalb nicht nur unantastbar, sondern wahr, und die Evolutionstheorie von Lamarck und Darwin sei lediglich eine unbewiesene Hypothese von überaus zweifelhaftem Wahrheitsgehalt. Leute mit dieser Anschauung bezeichnet man als Kreationisten, da sie davon ausgehen, Gott habe die Welt gemäß dem Bibeltext geschaffen (kreiert). Wir finden Kreationisten nicht nur in islamisch geprägten Ländern, sondern auch in den USA, wo "die Mehrzahl der Amerikaner [...] glaubt, dass die biblische Schöpfung ganz real stattgefunden hat. Das zumindest besagen die meisten Umfragen der vergangenen 20 Jahre [bezogen auf den 17.10.2005]. Erst vor wenigen Wochen ergab eine Erhebung des Pew Research Center, dass 64 Prozent der Amerikaner Kreationismus, in welcher Form auch immer, im staatlichen Schulunterricht wünschen."[9]
"Ein moderner Ableger dieses Weltbilds nennt sich 'Intelligent Design'. Vertreter dieser Sichtweise verweisen gern "auf sehr komplexe Erscheinungen in der Natur [...]. Das menschliche Auge, das Immunsystem oder der Fortbewegungsapparat eines Geißeltierchens könne unmöglich schrittweise durch zufällige Mutationen und anschließende Selektion entstanden sein. Denn diese sehr komplizierten Gebilde seien nur funktionsfähig, wenn alle ihre Bauteile auf genau abgestimmte Weise zusammenwirken. Solange dieses raffinierte Ensemble nicht völlig ausgereift sei, bringe es seinem Besitzer keinen Nutzen - und damit auch keinen Selektionsvorteil. Also könne es nicht durch Evolutionsprozesse entstanden sein. Vielmehr stecke hinter solchen Erfindungen der Plan einer höheren Intelligenz.
Gott wird in dieser Theorie nicht ausdrücklich genannt, es ist immer von einem 'intelligenten Designer' die Rede. Doch es ist kein Zufall, dass dieses Konzept vor allem unter christlichen Fundamentalisten [der USA] viele Anhänger hat."[10]
Was sind das für Leute, die uns glauben machen wollen, unsere Welt sei von einem Gott geschaffen worden, sei nicht älter als gerade einmal 6000 Jahre und Dinosaurier und Menschen seien zur selben Zeit auf der Erde herumgerannt? Es sind "tief religiöse" Menschen, Leute, die ihren Glauben von ihren "tief religiösen" Eltern sozusagen mit der Muttermilch eingetrichtert bekamen, liebenden, fürsorglichen Eltern, die großen Wert darauf legten, dass ein Kreuz an der Wand hing, dass zu den Mahlzeiten gemeinsam Gott für das Essen gedankt wurde, die ihre Kinder sonntags regelmäßig zu einem mitreißenden Prediger ihrer Kirchengemeinde in die Sonntagsschule schickten, Eltern, zu denen ihr solchermaßen indoktrinierter Nachwuchs tiefes Vertrauen gefasst hat, und für welchen es undenkbar ist, dass ihre Eltern sie angelogen haben könnten. Und ebenso undenkbar ist es für sie, dass die Bibel nicht das "Wort Gottes" sein könnte, dass die Texte nicht das bedeuten, was da steht. Fast alle gläubigen Menschen haben ihre Religion auf "Treu und Glauben" von ihren Vätern bzw. Müttern übernommen - und "This old-time religion / It is good enough for me". Man hinterfragt nichts, man zieht nichts in Zweifel, man schottet sich ängstlich von allem ab - besonders von den nüchternen Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung -, was ihre religiösen Anschauungen ins Wanken bringen könnte. Warum? Man fürchtet sich vor dem Verlust seiner spirituellen Hoffnungen, vor dem Verlust des festen Bodens unter den Füßen seiner Persönlichkeit, vor dem Fall ins Nichts. Wer will das den Menschen verdenken? Alle Alarmglocken aber müssen schrillen, wenn solche fanatisierten Gläubigen versuchen, ihr abstruses, bigottes Weltbild der gesamten Gesellschaft, in der sie leben, überzustülpen und ihre Sichtweise als allein gültige zu etablieren.
Der Schöpfungsbericht der Bibel gehört dem Bereich der Belletristik an und ist das Produkt fantasiebegabter Menschen, die vor weit über 2000 Jahren gelebt haben. Wer das partout nicht wahrhaben will - nun - dem ist wohl nicht zu helfen.

Wohin es führen kann, wenn man die Intentionen der Autoren von Bibeltexten nicht zutreffend erfasst, dafür haben wir in der Geschichte ein bis heute nachwirkendes Beispiel:
Jesaja, Sohn eines Amoz, war ein Prophet, stammte aus Jerusalem und hatte, wie einzelne Texte zeigen, Zugang zum Königshof. Er ist als Vertreter einer städtischen Oberschicht anzusehen. Verheiratet war er mit einer prophetisch begabten Frau (Jes 8,3) und hatte wohl mehrere Kinder. Er selbst nennt sich nie Prophet. Seine Wirksamkeit reichte von etwa 740 v. Chr. bis zum Jahre 701 v. Chr.[11]
Wie oben bereits erwähnt, war es damals gang und gäbe, dass spätere Propheten ihre eigenen Prophetien in bereits existierende Prophetentexte, welche bei der Bevölkerung eine hohe Autorität genossen - wie etwa das Buch Jesaja -, einschmuggelten. So finden wir beispielsweise im Text des Propheten Jesaja viele Textabschnitte, die nachweislich nicht von Jesaja stammen können: "Die Jesajaüberlieferung macht lediglich einen Teil des eigentlichen Jesajabuches (Kap. 1 - 39) aus, das zu einem Sammelbecken für jüngere, anonyme Prophetensprüche geworden ist. Die Sprüche und Berichte Jesajas sind, teilweise in fragmentarischer Form, in folgenden Abschnitten enthalten: 1,2 - 31; 2,6 - 4,1; 5,1 - 24 + 10,1 - 3; 6,1 - 8,22; 9,7 - 20 + 5,25 - 29; 10,5 - 15.27b - 32; 14,24 - 32; 17,1 - 6; 18; 20; 22,1 - 19; 28,1 - 32,14 (abzüglich der später eingefügten Sprüche 3,10 f.; 7,23 - 25; 8,9 f.; 29,17 - 24; 30,18 - 26; 32,1 - 8)."[12] Das heißt, alle anderen Textabschnitte stammen von anderen, uns namentlich nicht bekannten Propheten, darunter dem Propheten Deuterojesaja (= der zweite Jesaja).
"Als 'Deuterojesaja' ('Zweiter Jesaja'; abgekürzt: Dtjes; für 'deuterojesajanisch': dtjes) bezeichnet man die Kapitel 40-55 des Jesajabuchs im Unterschied zu Jes 1-39 (Protojesaja) und Jes 56-66 (Tritojesaja). Die Abgrenzung beruht auf der heute fast allgemeinen Einsicht, dass die Texte von Jes 40 an durchweg nicht mehr vom Propheten Jesaja im 8. Jh. v. Chr. hergeleitet werden können, sondern seit der Mitte des 6. Jh.s entstanden sind. Die ältesten Texte Dtjes's gehören also in die Zeit des babylonischen Exils, genauer in das Jahrzehnt zwischen 550 und 540 v. Chr. mit dem Auftreten des Perserkönigs Kyros, der 539 v. Chr. Babylon erobert und die Herrschaft auch über das babylonische Großreich angetreten hat. Kyros wird im Deuterojesajabuch an zwei Stellen namentlich genannt (Jes 44,28; Jes 45,1), in anderen Texten deutlich vorausgesetzt, und zwar nicht als zukünftige, sondern als gegenwärtige Gestalt. In diesen Texten werden ihm z. T. bevorstehende Eroberungen zugesagt, z. T. aber ist auch von seinem vergangenen oder noch andauernden Siegeszug die Rede, zu dem Jahwe, der Gott Israels, ihn berufen und ermächtigt hat. Da das als ein Beweis für Jahwe als den einzigen Gott angeführt wird, macht es keinen Sinn, die Texte als Voraussage Jesajas im 8. Jh. auszugeben (wie das gelegentlich noch heute verteidigt wird). Dazu kommt, dass nicht mehr Israeliten des 8. Jh.s angesprochen werden, sondern Israel im Exil, und dass Stil und Inhalt der dtjes Texte sich erheblich von der ursprünglichen jesajanischen Verkündigung unterscheiden."[13]
"Der dritte Teil des Jesaja-Buches [Tritojesaja = der dritte Jesaja] ist eine Zusammenstellung von Texten, die wohl auf mehrere Autoren zurückgehen. Wahrscheinlich sind sie eine Sammlung von unterschiedlichen Ansätzen zur Auslegung des bisherigen Buches Jesaja."[14] Das heißt, das Wachstum des Buches Jesaja war also einigermaßen kompliziert.
Innerhalb des Textes von Deuterojesaja ist an vier Stellen die Rede von einem Gottesknecht: Jes 42,1-9; Jes 49,1-9c; Jes 50,4-9 und Jes 52,13 - 53,12. Um zu verstehen, worum es in diesen sogenannten Gottesknechtsliedern geht, ist es unerlässlich, den historischen Hintergrund dieser Texte zu kennen.
Deuterojesaja zeigt eindeutige Bezüge zum persischen König Kyrus (um 590-530 v. Chr.), so in Jes 44,28-45,1: "[So spricht der Herr, dein Erlöser,] [...] der zu Kyrus sagt: Mein Hirt - alles, was ich will, wird er vollenden!, der zu Jerusalem sagt: Du wirst wieder aufgebaut werden!, und zum Tempel: Du wirst wieder dastehen. So spricht der HERR zu Kyrus, seinem Gesalbten [...]". Deshalb ist es naheliegend, dass Deuterojesaja ein Zeitgenosse des persischen Herrschers Kyros II. gewesen sein muss. Was ist damals geschehen?
"Im Jahre 605 [v. Chr.] ging die ägyptische Herrschaft über Syrien-Palästina zu Ende [...]. Der Babylonier Nebukadnezar (604-562 [v. Chr.]) etablierte ein neues Weltreich im Vorderen Orient."[15] Damit hatte die Oberhoheit über Juda zwar gewechselt, "die Abhängigkeit [Judas] und die damit verbundenen leidigen [Tribut-]Zahlungen allerdings nicht."[16] "[...] so erklärt sich die Entscheidung [des judäischen Königs] Jojakims, die Zahlungen an Babylon einzustellen, als Nebukadnezar 600 [v. Chr.] in Ägypten eine Niederlage erlitt. [...] Jerusalem wurde drei Monate lang von Babyloniern belagert, dann kapitulierte Jojachin. Dadurch entging die Hauptstadt 597 [v. Chr.] noch einmal der Zerstörung. Die üblichen Deportationen des Herrschers [Jojachin], seiner Familie, des Hofstaats und der obersten Beamten konnte allerdings niemand verhindern. Das gleiche Schicksal traf die waffenfähige Oberschicht und die Handwerker [...]. Die Babylonier setzten in dem erneut verkleinerten Juda einen [...] Verwalter ein: Zedekia [...]"[17] Als sich Babylon 589 v. Chr. im Innern und an sämtlichen Grenzen mit zahlreichen Problemen konfrontiert sah, befahl Zedekia den Aufstand gegen Babylon.[18] "Noch im selben Jahr rückten Truppen Nebukadzezars in Juda ein"[19] und eroberten 587/586 v. Chr. erneut Jerusalem. Die Stadt wurde samt Tempel vollständig zerstört und wieder "wurden Teile der Bevölkerung und der ländlichen Oberschicht [nach Babylon] deportiert" [20]. Diese Zeit des Babylonischen Exils sollte für die Verschleppten bis 538 v. Chr. dauern.
"'Der Sieg des [Perserkönigs] Kyros über das neubabylonische Reich (538 v. Chr.) brachte den deportierten Judäern bzw. ihren Nachkommen die Möglichkeit, nach Palästina zurückzukehren. Denn nach dem Willen des neuen Herrschers sollte das persische Weltreich nicht mehr ein politisch-militärischer Verband unterjochter Völker unter der Führung eines Herrschervolkes, sondern ein durchgebildetes Staatswesen von gleichberechtigten Bürgern sein. Im Zuge dieser Politik erhielten unter anderen die Judäer die Erlaubnis zur Rückkehr in ihre Heimat. Kyros gestattete ihnen, die seinerzeit von Nebukadnezar nach Babylon gebrachten Tempelgeräte mitzunehmen, und ordnete den Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem auf Staatskosten an; dieser Teil des königlichen Edikts ist in der aramäischen Urgestalt in Esr 6,3 - 5 enthalten.
Nur ein Teil der in Babylonien lebenden Judäer machte von der Erlaubnis zur Heimkehr Gebrauch. Als Kommissar für das der Provinz Samarien als besonderes Gebiet beigegebene Juda setzten die Perser den Davididen Scheschbazar ein, der wohl noch beim wieder gefeierten Laubhüttenfest des Jahres 537 v. Chr. den Grundstein für den neuen Tempel gelegt hat. Außerdem wurde auf dem Tempelplatz ein Altar errichtet, sodass der Opferkultus in Gang kam, bevor der Tempel erbaut war. Scheschbazar und die anderen Heimkehrer stifteten Geld und Weihegaben für die Ausstattung des Tempels und für den Kultus; auch die in Babylonien Zurückgebliebenen hatten dazu beigesteuert. Obwohl der Tempel aus persischen Mitteln errichtet werden sollte, ergab sich doch eine gegenüber der Königszeit geänderte Situation. Der salomonische Tempel war königliches Eigentum gewesen, vom König errichtet und der Dynastie gehörig. Das Volk zahlte wohl Abgaben für seine Erhaltung, aber über ihre Verwendung verfügte wieder der König. Der Unterhalt des neuen Tempels dagegen sollte nach dem Wegfall des judäischen Königtums vom Volk finanziert werden und der Tempel ihm gehören, sodass an die Stelle des früheren Königs- und Staatstempels ein Volkstempel trat. Zugleich bildete der Hohepriester an Stelle des früheren Oberpriesters die Spitze der Hierarchie.
Jedoch die Verhältnisse in Juda gestalteten sich schwierig, teilweise offenbar chaotisch; von der angekündigten Heilszeit war nichts zu bemerken. Darüber gerieten die Arbeiten am Tempel bald ins Stocken, wenn sie überhaupt über die Grundsteinlegung und die Errichtung des Altars hinaus gediehen waren. Alle Rückkehrer waren voll damit beschäftigt, für sich selbst ein Haus zu schaffen und den Lebensunterhalt zu erwerben.
Die Lage änderte sich erst im Jahre 520 v. Chr., als sich in Jerusalem eine Richtung durchsetzte, die den Tempelbau trotz aller Schwierigkeiten endlich ausführen wollte. Sie war durch innere Erschütterungen des Perserreiches begünstigt, die in Juda die Erwartung des eschatologischen Umschwungs aller Dinge wachriefen. Sie wurde von dem inzwischen eingesetzten neuen Kommissar Serubbabel und dem Hohenpriester Josua getragen und von den Propheten Haggai und Sacharja wesentlich gefördert. [...] Die Arbeit konnte fortgeführt und der Tempel im Jahre 515 v. Chr. mit einem großen Fest eingeweiht werden.' (Fohrer, S. 338-340) 'Der Tempel war ohne Serubbabel eingeweiht worden, den die persische Regierung wahrscheinlich als politisch verdächtig abberufen hatte und anscheinend nicht mehr durch einen neuen Kommissar ersetzte.' (Fohrer, S. 344)"[21]
Vor diesem historischen Hintergrund lassen sich nun die vier Gottesknechtslieder Deuterojesajas verstehen:
Mit der ersten Erwähnung des "Gottesknechts" ist Gesamt-Israel gemeint, also die Gesamtheit der Juden: "Du, mein Knecht Israel, du, Jakob, den ich erwählte, Nachkomme meines Freundes Abraham: Ich habe dich von den Enden der Erde geholt, aus ihrem äußersten Winkel habe ich dich gerufen. Ich habe zu dir gesagt: Du bist mein Knecht, ich habe dich erwählt und dich nicht verschmäht." (Jes 41,8/9)
Bereits das erste Lied vom "Gottesknecht" - so, wie dann auch alle folgenden "Gottesknechtlieder" - versteht unter diesem Begriff lediglich den aus dem babylonischen Exil nach Judäa zurückgekehrten Rest der exilierten Juden. Während sich in der Zeit des Exils in Judäa und Palästina alle möglichen Religionen und Götter finden und selbst bei vielen zurückgebliebenen Juden Jahwe kaum noch eine Rolle spielt, fühlten sich die Rückkehrer als jene, die für die Sünden aller Juden Sühne geleistet haben und jetzt als geläuterte Speerspitze ihres Gottes Jahwe, des einzig existierenden Gottes, in Jahwes Gelobtes Land, in seine Stadt Jerusalem zurückkehren. Sie fühlen sich als geistig-religiöse Elite ihres in Palästina "verwilderten" Volkes: Sie bringen "den Völkern das Recht" (Jes 42,1), "auf sein [Jahwes deuteronomisches] Gesetz warten die Inseln" (Jes 42,4), sie sind "das Licht für die Völker" (Jes 42,6) und öffnen ihnen die Augen (Jes 42,7): "Ich bin Jahwe, das ist mein Name, ich überlasse die Ehre, die mir gebührt, keinem andern (Jes 42,8) [...] Vor mir wurde kein Gott erschaffen und auch nach mir wird es keinen geben. Ich bin Jahwe, ich, und außer mir gibt es keinen Retter." (Jes 43,10/11)
Man kann davon ausgehen, dass die Rückkehrer von den Alteingesessenen in Palästina nicht gerade mit offenen Armen empfangen wurden: Deuterojesaja spricht von den Heimkehrern als "dem tief verachteten Mann, dem Abscheu der Leute, dem Knecht der Tyrannen [also der babylonischen Herrscher]". Und da nun diese abgerissenen Heimkehrer ihnen Jahwe als Siegergott, als den alleinigen Gott verkaufen wollen, entgegnen sie ("Zion sagt"): "Der Herr [also Jahwe] hat mich verlassen, Gott hat mich vergessen." (Jes 49,14)
Deuterojesaja argumentiert dagegen: "So spricht der Herr: Wo ist denn die Scheidungsurkunde, mit der ich eure Mutter fortgeschickt habe? Wo ist mein Gläubiger, dem ich euch verkauft habe?" (Jes 50,1) "Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: Ich [Jahwe] vergesse dich [Zion/Israel] nicht." (Jes 49,15) Und Deuterojesaja erklärt ihnen jetzt, warum sie Jahwe (vorübergehend scheinbar) verlassen hat: "Seht, wegen eurer bösen Taten wurdet ihr verkauft, wegen eurer Vergehen wurde eure Mutter fortgeschickt." (Jes 50,1)
Deuterojesaja macht das babylonische Los der heimgekehrten Exilgruppe möglicherweise schlimmer, als es wirklich war, vielleicht um bei den Alteingesessenen Mitleid zu erwecken und so die Akzeptanz für die Heimkehrer zu erhöhen: "Viele haben sich über ihn [den Gottesknecht] entsetzt, so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch [...]." (Jes 52,14) "Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet; wir schätzten ihn nicht. Aber er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt. Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt." Und so weiter. Da also die Exilanten für euer aller Sünden gebüßt haben, ist es nur mehr recht und billig, dass ihr sie akzeptiert und ihnen bei der Wiederansiedelung in ihrer alten Heimat helft: "Du sollst sie alle wie einen Schmuck anlegen, du sollst dich mit ihnen schmücken wie eine Braut." (Jes 49,18)

Um zu verstehen, welch folgenreiche Rolle im weiteren Verlauf das vierte Gottesknechtslied spielt, müssen wir uns nun einer jüdischen Gruppe zuwenden, die sich "Essener" (die Frommen) nannten. Wer waren die Essener? Sie wurden etwa um 150 v. Chr. von dem zeitweiligen Hohenpriester, der sich "Lehrer der Gerechtigkeit" nannte und von dem jüdischen Machthaber Jonatan aus dem Amt gedrängt worden war, gegründet. Ihr Ziel war, die Rechtmäßigkeit der Amtsinhaber des Hohenpriesteramtes am Jerusalemer Tempel sicherzustellen und die Rückkehr zum Sonnenkalender im Tempelkult, denn Jonatan, der das Amt des Hohenpriesters widerrechtlich usurpiert hatte, war zum Mondkalender übergegangen. "Als der Lehrer der Gerechtigkeit um 150 v. Chr. die gesamt-israelische Union der Essener gründete, waren er selbst und seine Anhänger fest davon überzeugt, in der letzten Phase der Weltgeschichte vor dem Endgericht Gottes und dem Anbruch der Heilszeit zu leben. Diese Wende zum Heil glaubten sie sogar so nahe, dass sie das künftige Auftreten des Messias aus den Hause Davids in ihrer ältesten Gemeindeordnung [...] und in der liturgischen Segensordnung bereits als fast schon gegenwärtig mitberücksichtigt haben.
Eine besondere Einsicht des Lehrers der Gerechtigkeit bestand in der Auffassung, alles, was Gott die biblischen Propheten einst hatte niederschreiben lassen, habe sich von vornherein nie auf deren eigene Zeitverhältnisse bezogen. Es seien vielmehr Weissagungen Gottes für die letzte Phase der Geschichte, jene Zeit also, die er gerade miterlebte. [...]
Dieses Schriftverständnis, das der Habakuk-Kommentar aus den Qumran-Funden ausdrücklich als vom Lehrer der Gerechtigkeit begründet darstellt [...], hatte enorme Folgewirkungen. Es hat die Essener geprägt, solange sie bestanden haben. Johannes der Täufer, Jesus und das frühe Christentum haben es übernommen, allerdings dann ihre eigene Zeit als diejenige Phase der Geschichte betrachtet, der die alten Weissagungen der biblischen Propheten galten. Alle Schriften des Neuen Testaments enthalten eine Fülle von Beispielen dafür.
Vor dem Lehrer der Gerechtigkeit hat niemand die biblischen Prophetenbücher in dieser aktuellen Bedeutung verstanden. Deren Aussagen wurden stets auf die Zukunft bezogen. Man wartete auf Verhältnisse, die von den Propheten ausdrücklich als erst künftig bevorstehend angekündigt worden waren. Dass man mitten in einer von den Propheten gleichsam wie für deren Gegenwart beschriebenen, aber diesen gegenüber künftigen Zeit lebte, war die folgenreichste Erkenntnis des Lehrers der Gerechtigkeit.
Als der Lehrer der Gerechtigkeit um 110 v. Chr. eines natürlichen Alterstodes starb, hatten sich seine Naherwartungen von Endgericht und Heilszeit sowie das Kommen des Messias noch nicht erfüllt
Das setzte bei den Hinterbliebenen Denkprozesse in Gang, die zu einer Neuorientierung führten. Wenn die biblischen Propheten die gesamte letzte Phase der Weltgeschichte vorausblickend im Einzelnen beschrieben hatten, dann mussten sich in ihren Büchern auch Daten finden lassen, denen die Dauer dieser Zeitphase und der Termin des Endgerichts zu entnehmen war."[22]
Nun, die Essener errechneten als Termin des Endgerichts das Jahr 70 v. Chr. Als dieses Jahr verstrich und kein Endgericht eintrat, rechneten die Essener noch einmal nach, bemerkten einen Fehler in ihrer Rechnung und ermittelten nun das Jahr 70 n. Chr. für das Endgericht. Für die Endzeit bis zum Endgericht und dem Beginn der Heilszeit kamen sie auf einen Zeitraum von 40 Jahren[23].
Obwohl die Essener zahlenmäßig nur einen geringen Prozentsatz der palästinischen Juden ausmachten - der jüdisch-römische Historiker Flavius Josephus schätzte sie 70 n. Chr. auf etwa 4000[24] -, war ihr geistiger Einfluss auf die jüdische Gesellschaft erheblich: Es gelang ihnen, dass die Idee vom baldigen Kommen des Messias und dem Gottesreich nahezu zum Allgemeingut des palästinischen Durchschnittsisraeliten wurde.
Nicht nur die Essener sowie die Nazoräer, also die Anhänger Johannes' des Täufers, sondern die überwiegende Mehrheit der Juden gingen von der Vorstellung aus, dass in einer Zeit höchster Bedrängnis dem bußfertigen, gequälten Volk Israel ein Messias erscheine, der die Mächte der Finsternis niederringen und dem Gottesreich den Weg bahnen werde. Und zur Zeit von Jesus empfanden sich die Juden als in einer Zeit höchster Bedrängnis lebend: Herrscher wie Herodes Antipas traten die Gesetze der Thora mit Füßen und führten sich als grausame, zynische Despoten auf und die Römer waren die Besatzungsmacht, die solche Marionetten nach Belieben ein- oder absetzte und dem jüdischen Volk in jeder Beziehung die Daumenschrauben anlegte.
Je näher das Jahr 70 n. Chr. kam, desto fiebriger wurde die intellektuelle Atmosphäre in weiten Schichten des Landes und sicherlich gerade auch bei der Jugend. Es ist kein Zufall, dass Johannes genau 40 Jahre vor dem erwarteten Endgericht im Jahr 70 n. Chr. mit seiner Jordantaufe begann. Er war kein Essener, ebenso wenig wie Jesus, aber er glaubte - wie die Essener - an das nahe bevorstehende Weltende "und verkündigte Umkehr und Taufe zur Vergebung der Sünden" (Mk 1,4) "und alle glaubten, dass Johannes wirklich ein Prophet war" (Mk 11,32).
Seit dem Erscheinen von Hartmut Stegemanns Buch "Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus" war klar: Jesus war dem Jüngerkreis um Johannes den Täufer zuzuordnen: Jesus wird im Neuen Testament mehrfach als "Nazoräer" bezeichnet. Hartmut Stegemann wies nun in seinem Buch darauf hin, dass der Begriff "Nazoräer" damals die Bezeichnung für Johannes und seine Anhänger war. "Wegen dieser Bedeutsamkeit seiner Taufe [Gewähr der Sündenvergebung durch Gott im Endgericht] haben zeitgenössische Juden den Johannes und seine Anhänger etwas spöttisch 'die Bewahrer' [die dich davor bewahren, im Endgericht von Gott verworfen zu werden] genannt, aramäisch n a z r é n oder - mit Artikel - n a z r á j j a, in griechischer Wiedergabe n a z a r e n o í bzw. n a z o r a i o i. Zur besseren Unterscheidung von vielen Gleichnamigen wurde deshalb Jesus 'der Nazarener' [...] bzw. der 'Nazoräer' [...] genannt, was ursprünglich gar nicht seine Herkunft 'aus Nazaret' meinte [...], sondern seine Herkunft aus dem Täuferkreis oder seine Zugehörigkeit zu diesem."[25] Jesus hat sich also nicht nur von Johannes taufen lassen, sondern er hat diesem in Betanien, dem Wirkungsort von Johannes dem Täufer, zusammen mit anderen Jüngern assistierend zur Seite gestanden; es bestand somit ein Schüler-Meister-Verhältnis zwischen Jesus und Johannes.
Nach der Verhaftung ihres Meisters muss es im verwaisten Jüngerkreis zu Meinungsverschiedenheiten darüber gekommen sein, wie diese Verhaftung auf dem Hintergrund des von Johannes verkündeten unmittelbar bevorstehenden Kommen Gottes und seines Reiches zu deuten sei. Dabei hat Jesus zum einen offenbar die Ansicht vertreten, mit der Verhaftung ihres Meisters sei das von diesem angekündigte Reich Gottes nun tatsächlich da (Mt 12,28), zum anderen deutete er die Gottesknechtstelle bei Jesaja 52,13-53,12 offensichtlich gemäß der in Mode gekommenen Interpretationsweise des Lehrers der Gerechtigkeit so, als fordere Gott vor seinem leibhaftigen Kommen noch die Opferung eines "Gottesknechts" als Sühne für die Sünden seines auserwählten Volkes.

(Jes 52,13-53,12):
"52,13 Siehe, mein Knecht wird Erfolg haben, / er wird sich erheben und erhaben und sehr hoch sein. 14 Wie sich viele über dich entsetzt haben - / so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch, / seine Gestalt war nicht mehr die eines Menschen -, 15 so wird er viele Nationen entsühnen, / Könige schließen vor ihm ihren Mund. Denn was man ihnen noch nie erzählt hat, / das sehen sie nun; was sie niemals hörten, / das erfahren sie jetzt. 53,1 Wer hat geglaubt, was wir gehört haben? / Der Arm des HERRN - wem wurde er offenbar? 2 Vor seinen Augen wuchs er auf wie ein junger Spross, / wie ein Wurzeltrieb aus trockenem Boden. Er hatte keine schöne und edle Gestalt, / sodass wir ihn anschauen mochten. Er sah nicht so aus, / dass wir Gefallen fanden an ihm. 3 Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, / ein Mann voller Schmerzen, / mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, / war er verachtet; wir schätzten ihn nicht. 4 Aber er hat unsere Krankheit getragen / und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, / von ihm getroffen und gebeugt. 5 Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Vergehen, / wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Züchtigung auf ihm, / durch seine Wunden sind wir geheilt. 6 Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe, / jeder ging für sich seinen Weg. Doch der HERR ließ auf ihn treffen / die Schuld von uns allen. 7 Er wurde bedrängt und misshandelt, / aber er tat seinen Mund nicht auf. Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, / und wie ein Schaf vor seinen Scherern verstummt, / so tat auch er seinen Mund nicht auf. 8 Durch Haft und Gericht wurde er dahingerafft, / doch wen kümmerte sein Geschick? Er wurde vom Land der Lebenden abgeschnitten / und wegen der Vergehen meines Volkes zu Tode getroffen. 9 Bei den Frevlern gab man ihm sein Grab / und bei den Reichen seine Ruhestätte, obwohl er kein Unrecht getan hat / und kein trügerisches Wort in seinem Mund war. 10 Doch der HERR hat Gefallen an dem von Krankheit Zermalmten. / Wenn du, Gott, sein Leben als Schuldopfer einsetzt, wird er Nachkommen sehen und lange leben. / Was dem HERRN gefällt, wird durch seine Hand gelingen. 11 Nachdem er vieles ertrug, erblickt er das Licht. / Er sättigt sich an Erkenntnis. Mein Knecht, der gerechte, macht die Vielen gerecht; / er lädt ihre Schuld auf sich.[1] 12 Deshalb gebe ich ihm Anteil unter den Großen / und mit Mächtigen teilt er die Beute, weil er sein Leben dem Tod preisgab / und sich unter die Abtrünnigen rechnen ließ. Er hob die Sünden der Vielen auf / und trat für die Abtrünnigen ein."

Während also Deuterojesaja seinen Begriff "Gottesknecht" als Personifikation Gesamt-Israels bzw. des nach Babylon verschleppten Teils Israels verstand, deutete Jesus nun den Begriff "Gottesknecht" als aktuelle Forderung seines Gottes Jahwe, eine tatsächliche Person müsse Sühne leisten für die Sünden seines auserwählten Volkes. Mit dieser letzten Ansicht stieß Jesus bei seinen Mit-Nazoräern offenbar auf entschiedenen Widerspruch. Jedoch hatte sich Jesus dermaßen in diese Ansicht verrannt, dass er schließlich den Jüngerkreis verlassen hat mit der Maßgabe, wenn kein Gottesknecht in Sicht sei, dann werde eben er diese Rolle übernehmen und sich nach der Verkündung des Evangeliums auch in Galiläa schließlich in Jerusalem kreuzigen lassen. Damit erfülle er die Forderung Gottes und löse zugleich Gottes personales Erscheinen in seinem bereits angebrochenen Reich aus.
Dass Jesus nach seiner Rückkehr nach Galiläa mit Leuten aus seinem galiläischen Freundes- und Bekanntenkreis das Evangelium auch in Galiläa bzw. Nordpalästina verkündet und nicht mit Mit-Nazoräern, ist ein untrügliches Indiz für das Zerwürfnis unter den Jüngern des Johannes. Offenbar kamen aber seine nazoräischen Genossen zu dem Schluss, man müsse Jesus, wenn er denn tatsächlich mit seinem selbstmörderischen Unterfangen ernst mache, irgendwie retten.
Nun, der Rest der Geschichte ist ja hinlänglich bekannt: Nachdem Jesus mit der Verkündigung des Evangeliums auch in Galiläa und in Norden Palästinas zusammen mit zwölf Helfern das Werk seines verhafteten Meisters Johannes zu Ende geführt hat, zieht er mit diesen Helfern und einigen Anhängerinnen zum Pessachfest nach Jerusalem und erreicht dort durch gezielte Provokationen gegenüber dem Tempel-Establishment seine Hinrichtung am Kreuz. Dabei war Jesus - offenbar gemäß Jes 52,13-53,12 - davon ausgegangen, dass Gott ihn nach erfolgter Kreuzigung als Messias vom Kreuz herabsteigen und die vierzigjährige Endzeit eröffnen lasse:

Jes 52,13: "Siehe, mein Knecht wird Erfolg haben, / er wird sich erheben und erhaben und sehr hoch sein."
Jes 53,10: "Doch der HERR hat Gefallen an dem von Krankheit Zermalmten. / Wenn du, Gott, sein Leben als Schuldopfer einsetzt, wird er Nachkommen sehen und lange leben. / Was dem HERRN gefällt, wird durch seine Hand gelingen."

Es gibt weitere Übereinstimmungen des tatsächlichen Geschehens mit Jes 52,13-53,12: Der "Hohe Rat" übergibt Jesus an Pontius Pilatus, den Prokurator der römischen Besatzungsmacht für Judäa; diesen interessiert nicht, ob sich Jesus für den Messias hält - das waren innerjüdische Kinkerlitzchen und in Fragen der jüdischen Religion war er ohnehin der Meinung, dass die Juden nicht alle Tassen im Schrank hätten. Also prüft er Jesus gleich unter dem Aspekt der angemaßten Königswürde und damit der Majestätsbeleidigung des römischen Kaisers, ein Verbrechen, das nach der Lex Julia, dem geltenden Recht, mit der Kreuzigung bestraft wird (Mk 15,2): "Bist du der König der Juden?" Will Jesus gekreuzigt werden - und er will -, muss er das nur bejahen, aber die Art und Weise, wie er das macht, zeigt, dass er nicht aufgrund eines politischen Delikts von der römischen Besatzungsmacht verurteilt werden will, sondern aus religiösen Gründen aufgrund der Anklage des jüdischen Hohen Rats - und damit besteht Übereinstimmung mit der Schrift, mit Jes 52,13 - 53,12. Er antwortet (Mk 15,2): "Du sagst es." "Man kann diese Antwort durch verschiedene Betonung verschieden interpretieren: Du sagst es; oder du sagst es."[26] Wenn Jesus sich als König der Juden deklarieren würde, so wäre damit auch die Bedeutung "Messias" enthalten - das aber geht Pilatus, den weltlichen Arm der römischen Besatzungsmacht, nichts an - deshalb gibt Jesus diese zweideutige Antwort. Auch in einem anderen Detail legt Jesus Wert auf Übereinstimmung mit dem Propheten Jesaia (Jes 53,7): "[...] er tat seinen Mund nicht auf [...]"; "Jesus aber gab keine Antwort mehr [...]." (Mk 15,5)
Nachdem Jesus nun bereits sechs (halachische) Stunden am Kreuz gehangen hatte, aber offensichtlich nicht das geschehen war, was Jesus nach Deuterojesaja erwartet hatte, rief er in seiner Verzweiflung: "Eloi, Eloi, lema sabachtani?" (Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?), was für Nazoräer unter dem Kreuz ein klares Indiz dafür war, dass Jesus sich geirrt hatte. Einer der Nazoräer reichte Jesus nun an einem Stock einen mit einem Narkotikum getränkten Schwamm, worauf Jesus das Bewusstsein verlor (Mk 15,35-37). In diesem Zustand schafften sie ihn anschließend in ein Grab und kümmerten sich dort um seine Wiederbelebung.
Wieder aus der Betäubung erwacht, hat Jesus seine "wunderbare" Errettung offenbar als Tat Gottes interpretiert, welcher ihm wohl doch die Rolle des Messias zugedacht habe. Die Nazoräer waren nun natürlich aus begreiflichen Gründen darauf bedacht gewesen, dass der hingerichtete Jesus untertaucht, dieser wollte aber vorher noch von seinen Jüngern Abschied nehmen. Bei diesem/n Treffen muss bei den Jüngern und Anhängerinnen der Eindruck entstanden sein, Jesus sei von den Toten auferstanden. Schließlich verabschiedete sich Jesus von ihnen mit der Maßgabe, er werde bald, sehr bald "mit den Wolken des Himmels" an der Seite "der Macht" (Mk 14,62) zu ihnen zurückkommen und mit ihnen den vierzigjährigen Endkampf eröffnen. Mit den die Rückkehr Jesu erwartenden Jüngern begann faktisch das Christentum.
Man kann also sagen, das Christentum verdankt seine Entstehung einer fragwürdigen Textinterpretation des Jesajatextes 52,13-53,12 durch den Johannes-Jünger Jesus.

Anmerkungen

1. Dawkins, Richard: Die Schöpfungslüge. Warum Darwin recht hat. Berlin: Ullstein, 2010
2. S. https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag-erschaffung-welt-100.html (entnommen am 1.4.25)
3. Nach https://www.mdr.de/wissen/antworten/schoepfungsmythen-weltweit-religion-
schoepfung-mensch-100.html (entnommen am 8.4.25)
4. Aus: Martin, Wolfgang: Über den Ursprung Gottes aus dem Geiste des Menschen Psyche und Religiosität. Berlin: Online-Veröffentlichung auf
https://www.bleib-nicht-dumm.de/, 2024
5. Ebenda, S. 22
6. https://www.bibelkommentare.de/kommentare/k-3320/die-symbolische-lehre-der-
stiftshuette/die-bretter-der-huette (entnommen am 27.03.25)
7. Katechismus der Katholischen Kirche. München: Oldenbourg, 1993
8. https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Gra%C3%9F (entnommen am 10.4.25, 11.06 Uhr); Wikipedia-Artikel und Graß-Zitat nach: https://www.spiegel.de/politik/jesus-und-
die-kirchen-a-3d6aa63f-0002-0001-0000-000046266407?context=issue (überprüft v. Verf. am 10.4.25, 11.15 Uhr)
9. https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/kreationisten-in-den-usa-mit-gottes-
wort-gegen-die-wissenschaft-a-379334.html (entnommen am 11.4.25)
10. Vierling, Kerstin und Knauer, Roland: Evolution. 100 Bilder, 100 Fakten. Köln: Naumann & Göbel Verlagsgesellschaft mbH, [o. J.], S. 80
11. Nach: https://www.die-bibel.de/ressourcen/bibelkunde/bibelkunde-at/jesaja-jes (entnommen am 11.4.25)
12. Fohrer, Georg: Geschichte der israelitischen Religion. Berlin: Walter de Gruyter & Co, 1969, S. 254
13. https://www.die-bibel.de/ressourcen/wibilex/altes-testament/deuterojesaja (entnommen am 11.4.25)
14. https://www.die-bibel.de/ressourcen/bibelkunde/bibelkunde-at/tritojesaja (entnommen am 11.4.25)
15. Clauss, Manfred: Das alte Israel. Geschichte, Gesellschaft, Kultur. München: Beck, 20032, S. 75
16. Ebenda
17. Ebenda, S. 76
18. S. Clauss, Manfred: Das alte Israel. Geschichte, Gesellschaft, Kultur. München: Beck, 20032, S. 77
19. Ebenda
20. Ebenda, S. 78
21. Martin, Wolfgang: Mit den Wolken des Himmels. Eine Geschichte der jüdischen Sehnsucht nach dem Reich Gottes (bis Bar Kochba). Berlin: Martin, Wolfgang, 2020, S. 86-88
22. Stegemann, Hartmut: Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus. Freiburg, Basel, Wien: Herder, 1993, S. 172/3
23. Siehe ebenda, S. 288
24. Nach ebenda, S. 194
25. Ebenda, S. 303/4
26. Ben-Chorin, Schalom: Bruder Jesus. Der Nazarener in jüdischer Sicht. München: Paul List Verlag, 1967, S. 197

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