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Jesus war Nazoräer. Das steht insgesamt siebenmal in Neuen Testament: Mk 14,67; Mt 2,23; Mt 26,71; Joh 18,5 u. 7; Apg 2,22; Apg 6,14 und Apg 22,8. Was war ein Nazoräer? Der Orientalist Hartmut Stegemann schrieb dazu in seinem Buch "Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus"[1]: "Wegen dieser Bedeutsamkeit seiner Taufe [Gewähr der Sündenvergebung durch Gott im Endgericht] haben zeitgenössische Juden den Johannes und seine Anhänger etwas spöttisch 'die Bewahrer' [die dich davor bewahren, im Endgericht von Gott verworfen zu werden] genannt, aramäisch n a z r é n oder - mit Artikel - n a z r á j j a, in griechischer Wiedergabe n a z a r e n o í bzw. n a z o r a i o i. Zur besseren Unterscheidung von vielen Gleichnamigen wurde deshalb Jesus 'der Nazarener' [...] bzw. der 'Nazoräer' [...] genannt, was ursprünglich gar nicht seine Herkunft 'aus Nazaret' meinte [...], sondern seine Herkunft aus dem Täuferkreis oder seine Zugehörigkeit zu diesem."
Damit war klar: Jesus war dem Jüngerkreis um Johannes den Täufer zuzuordnen; Jesus hat sich also nicht nur von Johannes taufen lassen, sondern er hat diesem in Betanien, dem Wirkungsort von Johannes dem Täufer, zusammen mit anderen Jüngern assistierend zur Seite gestanden; es bestand somit ein Schüler-Meister-Verhältnis zwischen Jesus und Johannes.
Nachdem Johannes von seinem Landesherrn Herodes Antipas in den Kerker geworfen worden war, folgerte Jesus, dass sich nun das von Johannes angekündigte Kommen von Gottes Reich tatsächlich vollziehen müsse. Der verwaiste nazoräische Jüngerkreis wartete auf Gottes Erscheinen, aber Gott kam nicht. Jesus glaubte zu wissen, woran es liege: Bevor Gott käme, müsse noch gemäß dem Propheten (Deutero-) Jesaja ein "Gottesknecht" für die Sünden seines (jüdischen) Volkes Sühne leisten und sich dafür (in Jerusalem) kreuzigen lassen (Jes 52,13-53,12). Seine Mit-Nazoräer hielten dies für unzutreffend, Gott würde unmöglich ein solches Menschenopfer verlangen. Je eifriger seine nazoräischen Genossen ihrem Gefährten Jesus diese Idee auszureden versuchten, desto sturer und fanatischer verrannte sich Jesus in diese Ansicht. Schließlich erklärte er, dass er dann eben selbst dieses Gottesknechtsopfer auf sich nehmen werde. (Insgeheim war er sich sicher, dass er, vermeintlich gemäß Jesaja, nach vollbrachter Kreuzigung von Gott vom Kreuz herab als Messias gekürt werden würde und an der Seite Gottes den vierzigjährigen Endkampf gegen die Mächte der Finsternis durchfechten werde.) Verstimmt verließ er den nazoräischen Jüngerkreis in Betanien am Jordan und ging zurück nach Kafarnaum.
Dass Jesus Mitglied im Jüngerkreis des Johannes war, ist seit Hartmut Stegemann sicher. Aber das Zerwürfnis Jesu mit dem Jüngerkreis nach der Verhaftung des Johannes ist nirgends dokumentiert. Es lässt sich jedoch indirekt erschließen:
Jesus beschließt nach der Rückkehr nach Kafarnaum das Werk des Johannes (Verkündigung des Evangeliums) in modifizierter Form fortzuführen und zu Ende zu bringen: Zwar waren "ganz Judäa und alle Einwohner Jerusalems" (Mk 1,5) zu Johannes an den Jordan gezogen, um sein Evangelium zu hören und sich von ihm taufen zu lassen, aber Jesus wollte auch den Juden in Galiläa und in den jüdischen Gemeinden größerer hellenisierter Städte im Norden Palästinas das Evangelium verkünden. Das tut er also als Nazoräer, und was er tut, ist ganz im Sinne seines Meisters Johannes. Es wäre also zu erwarten gewesen, dass seine Mit-Nazoräer ihn dabei personell unterstützten. Dem war jedoch nicht so. Warum? Diese wussten, dass er sich anschließend in Jerusalem kreuzigen lassen wollte, und das wollten sie nicht durch ihre Mitwirkung auch noch unterstützen. Stattdessen gewinnt Jesus Helfer in seiner Heimat, denen gegenüber er zunächst seine Absicht, sich in Jerusalem kreuzigen zu lassen, verheimlicht. Dass Jesus also seine Evangeliumsverkündigungstour im Norden mit Leuten aus seinem galiläischen Freundes- und Bekanntenkreis unternimmt und nicht mit Nazoräern aus dem Jüngerkreis des Johannes, sei, so Martin in seinem 2017/8 veröffentlichten Buch "Was Sie schon immer über Jesus wissen wollten", ein untrügliches Indiz für das Zerwürfnis unter den Nazoräern in Betanien, der Taufstelle des Johannes.
Das zweite Indiz für das Zerwürfnis Jesu mit dem Nazoräerkreis ist etwas schwieriger auszumachen:
Erst auf dem Weg nach Jerusalem bereitet Jesus seine Jünger darauf vor, dass er in Jerusalem gekreuzigt werden würde - das hat er ihnen bisher verschwiegen. Als Jesus seinen Jüngern das mitteilt, "nahm ihn Petrus beiseite und machte ihm Vorwürfe" (Mk 8,32). Er will Jesus diese "Schnapsidee" ausreden, das aber würde bedeuten - so sieht es Jesus -, dass die Schrift (Jesaja) nicht erfüllt, das Kommen Gottes verhindert und die Herrschaft der Mächte der Finsternis, des Satans, verlängert wird. Schroff weist Jesus ihn deshalb zurecht (Mk 8,33): "Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen! Denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will [...]." Für Jesus spricht aus Petrus Satan, der Petrus benutzt, um den Versuch zu unternehmen, Jesus seine Absicht auszureden, sich in Jerusalem kreuzigen zu lassen. - Diese "Versuchung" gab es bereits schon vorher in Betanien (Wüste). Bei Markus heißt es (1,12): "Danach [nach der Taufe] trieb der Geist Jesus in die Wüste. Dort blieb Jesus vierzig Tage lang und wurde vom Satan in Versuchung geführt." Schauen wir uns hier den "Satan" und die "Versuchung" einmal genauer an: Wir erinnern uns, dass er Petrus, der "versucht", ihm seinen Kreuzestod auszureden, "Satan" nennt (Mk 8,33). Gehen wir davon aus - wie wir das schon weiter oben erwähnt haben -, dass es unter den Nazoräern - insbesondere nach der Verhaftung ihres Meisters Johannes - Diskussionen, Meinungsaustausch und Meinungsbildung gegeben haben muss, dann kann man sich vorstellen, worin die "Versuchung" bestand: Jesus wird mit seiner Ansicht, es müsse einer Jesaja erfüllen und sich als Opferlamm kreuzigen lassen, nicht unbedingt auf ungeteilte Zustimmung gestoßen sein. Mit-Nazoräer sind anderer Meinung, haben eine andere Sichtweise und "versuchen", Jesus diese Idee auszureden. Jesus nennt Petrus später, als er das auch "versucht", Satan; das also ist der "Satan", der laut Markus (1,13) Jesus in "Versuchung" führte. Satan spricht in Betanien durch die Mit-Nazoräer; durch diese versucht Satan, Jesus von dieser Idee abzubringen. Denn hätte Satan es durch die Mit-Nazoräer geschafft, Jesus seine Idee auszureden, wäre die Schrift (Jesaja) nicht erfüllt worden, Jesus hätte nicht seine "Heilstat" vollbracht und die Macht des Satans in der Welt wäre weiterhin ungebrochen geblieben. Jesus blieb dabei, diese Rolle des Opferlamms übernehmen zu wollen. Das ist wohl seinen Mit-Nazoräern nicht entgangen - und es war ihnen nicht gleichgültig. Offenbar sannen sie darauf, wie man Jesus, falls er sich tatsächlich kreuzigen lassen würde, das Leben retten könnte.
Anmerkung
1. Stegemann, Hartmut: Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus. Freiburg, Basel, Wien: Herder Verlag, 1993, S. 303/4
© by Wolfgang Martin
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