Wolfgang Martin


Ging Jesus nach seiner "Auferstehung" nach Indien?


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Medial außerordentlich beliebt ist die Legende, der "Wanderprediger" Jesus sei nach seiner "Auferstehung" nach Indien gegangen, und habe dort "als wundertätiger Prediger weitergewirkt"[1]. Das ist bei Journalisten immer gut für einen Artikel oder eine Fernsehdokumentation.
Dabei wird in der Regel die Tatsache, dass Jesus tatsächlich am Kreuz nicht tot war, mit der Legende seiner "Wanderprediger"-Tätigkeit in Indien verknüpft. Dass Jesus tatsächlich am Kreuz nicht tot war, ist sehr wahrscheinlich, dass Jesus nach seiner "Auferstehung" nach Indien gegangen sei, um dort zu predigen, ist barer Unsinn.
Zur Frage, ob Jesus am Kreuz wirklich gestorben ist, sei auf das Buch "Was Sie schon immer über Jesus wissen wollten" von Wolfgang Martin[2] verwiesen, wer sich einen Überblick über die Jesus-in-Indien-Legende verschaffen will, kann das Buch "Jesus in Indien - Das Ende einer Legende" von Günter Grönbold[3] zur Hand nehmen.
Warum kann Jesus nach seiner "Auferstehung" nicht nach Indien gegangen sein? Weil er ein gesetzestreuer Jude war und er nur und ausschließlich seinen Mitjuden etwas zu sagen hatte. Alle anderen haben Jesus nicht interessiert - also auch die Inder nicht. Außerdem ist das, was Jesus seinen Mit-Juden zu sagen hatte, absolut überschaubar: Das war einmal das Evangelium des Johannes des Täufers: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes im Gelobten Land wird bald anbrechen, die Macht des Satans wird gebrochen, die Ankunft Gottes auf Erden im "Gelobten Land" (Israel) steht unmittelbar bevor; wer in Ewigkeit mit Gott in seinem Reich im Gelobten Land zusammensein möchte, sollte schleunigst "umkehren", seine Sünden bereuen und die Gebote (Thora) mit dem Herzen erfüllen. - Diese "gute Botschaft" (= "Evangelium") hatte Johannes der Täufer den judäischen Juden verkündet und nach der Einkerkerung von Johannes hat sein Schüler und Jünger Jesus zusammen mit zwölf Helfern in Vollendung der Mission von Johannes auch in Galiläa und in jüdischen Gemeinden im Norden Palästinas dieses Evangelium verkündet, und diese Botschaft war nur für die Juden gedacht, noch nicht einmal für die Samariter, geschweige denn für die Inder. Und mehr hatte Jesus seinen Mit-Juden auch nicht zu verkünden. - Ja wie, höre ich jetzt sagen, und was ist mit dem Liebesgebot?
Fragt man einen christlichen Theologen nach dem Kern von Jesu Botschaft und dem Christentum, so wird er sehr wahrscheinlich antworten (sinngemäß): "Der Kern christlichen Glaubens und Lebens ist im dreifachen Liebesgebot Jesu, das auf jüdische Traditionen zurückgeht, zusammengefasst: 'Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt (5. Mose 6,5). Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst (3. Mose 19,18).' (Matthäusevangelium 22,37-39)."[4] Im Katechismus der Katholischen Kirche[5] heißt es gar: "Jesus macht die Liebe zu einem neuen Gebot."[6] und in einer Internet-Adresse heißt es: "Jesus Christus betonte immer wieder die Liebe als wichtigste seiner Lehren."[7]
Die Wahrheit ist: Nichts von alldem trifft zu. Schauen wir also noch einmal ganz genau hin: Worin besteht die Verkündigung Jesu?
Dazu sollte man das Markusevangelium befragen, das ziemlich sicher kurz nach dem Jahr 70 n. Chr. verfasst wurde. Es gehört neben den Paulusbriefen zu den ältesten Schriften des Neuen Testaments und diente allen drei folgenden kanonischen Evangelien als Vorlage. Als solches unterscheidet sich das Markusevangelium von den drei nachfolgenden kanonischen Evangelien in einer ganz gravierenden Weise: Das Markusevangelium hatte als Adressat nahezu ausschließlich die Juden, die (noch) nicht daran glaubten, dass Jesus der erwartete Messias gewesen war; das Markusevangelium ist also von der Intention des Verfassers her eine Informationsschrift über Jesus für die Juden, die mit einem Jesus, der vor über 40 Jahren nach einer Kreuzigung von der Bildfläche verschwunden war, nichts anfangen konnten: Wer, bitteschön, ihr Christen, war denn dieser Jesus, den wir eurer Meinung nach als Messias betrachten sollen? Auf diese berechtigte Frage einer Generation von Juden, welche die Geschehnisse zum Pessachfest des Jahres 30 n. Chr. in Jerusalem nicht kennen konnte, will das Markusevangelium Antwort geben. Und als solches ist es die entscheidende Quelle von Informationen über Jesus, sein Leben, sein Wirken, sein Wollen. Die nachfolgenden kanonischen Evangelien, das Matthäusevangelium, das Lukas- und das Johannesevangelium, haben neben den Juden noch andere Adressaten im Blick, sodass es zu scheiden gilt, wo Rede des authentischen Jesus wiedergegeben wird und wo der oder die Verfasser des jeweiligen Evangeliums sich mit eigenen Redebeiträgen an die anderen Adressaten wenden. Matthäus wendet sich neben den Juden noch an die paulinisch-hellenistischen Heidenchristen und insbesondere auch an die eigenen juden-christlichen Gemeinden; Lukas schreibt ausdrücklich für eine Einzelperson, einen gewissen Theophilus, und Johannes, der einen Kunstjesus geschaffen hat, einen göttlich daherwandelnden Gottessohn, wendet sich kaum noch an die Juden, dafür fast ausschließlich an die paulinisch-heidenchristlichen Gemeinden, womit man seinen Text - stärker noch als das Matthäusevangelium - vor allem als Pastoral-Evangelium ansprechen kann.
Das bedeutet, dass das Markusevangelium dem historischen Jesus zeitlich am nächsten steht, auch wenn es deshalb noch nicht zwingend ist, dass es deshalb am authentischsten ist. Aber in der Zeit zwischen dem Markus- und dem Matthäus- und Lukasevangelium mussten sich die Christen mit nicht wenigen - sehr plausiblen, sehr naheliegenden - Einwänden ihrer (jüdischen) Mitmenschen, bei denen sie für ihre neue Sichtweise oder Religion warben, auseinandersetzen - und so wurde denn das Markusevangelium ohne Rücksicht auf irgendeine historische Wahrheit "nachgebessert", sodass in den drei jüngeren Evangelien die Sichtweisen der frühchristlichen Gemeinden sehr viel stärker zum Tragen kommen als das Leben und Wollen des historischen Jesus. Da also das Markusevangelium diese Überarbeitungen nicht beinhaltet, liegt es nahe, im Wesentlichen dieses zur Grundlage zu nehmen.
Wenn wir also wissen wollen, worin neben der Verkündigung des Evangeliums (s. o.) die spezifische Verkündigung Jesu bestand, müssen wir das Markusevangelium befragen. Prüfen wir zuerst die Behauptung, Jesus habe immer wieder die Liebe als wichtigste seiner Lehren betont, so finden wir im gesamten Markusevangelium gerade einmal eine Stelle, wo von Liebe/lieben die Rede ist (Mk 12,30-33): "Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden." Dies bekräftigt der Schriftgelehrte, mit dem sich Jesus unterhält, noch einmal: "Sehr gut, Meister! Ganz richtig hast du gesagt: Er allein ist der Herr und es gibt keinen anderen außer ihm und ihn mit ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer."
Hier macht Jesus noch nicht einmal "die Liebe zu einem neuen Gebot", sondern er zitiert als gläubiger Jude schlicht und einfach aus dem Gesetz, der Thora, der "heiligen" Schrift der Juden (5 Mose 6,4/5 sowie 3 Mose 19,18 und 19,34). Eine Stelle, wo Jesus "die Liebe [gar] zu einem neuen Gebot" machen würde (s. o.), lässt sich im gesamten Markusevangelium nicht finden. Bleibt die Frage: Worin besteht denn dann nach Markus die Verkündigung Jesu? Nun, dazu heißt es ganz lapidar: "[...] er verkündete das Evangelium Gottes" (Mk 1,14). Noch einmal: Worin bestand "das Evangelium Gottes", die "gute Botschaft"? Darin: "Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium [also daran, dass Gottes Reich nahe ist]!" (Mk 1,15) Dass dies der Inhalt seiner Verkündigung ist, bekräftigt Jesus (Mk 1,38): "Lasst uns anderswohin gehen, in die benachbarten Dörfer, damit ich auch dort verkünde; denn dazu bin ich gekommen."
Daneben ist im Text von einer "neue[n] Lehre" Jesu die Rede (Mk 1,27). Worin besteht diese "neue Lehre"? Einmal in seiner Ansicht, das Reich Gottes sei im Gelobten Land bereits angebrochen (Mt 12,28) und zum zweiten in der Behauptung: "Alles kann, wer glaubt." (Mk 9,23) Dies erläutert Jesus später etwas ausführlicher: "Amen, ich sage euch: Wenn jemand zu diesem Berg sagt: Heb dich empor und stürz dich ins Meer! und wenn er in seinem Herzen nicht zweifelt, sondern glaubt, dass geschieht, was er sagt, dann wird es geschehen. Darum sage ich euch: Alles, worum ihr betet und bittet - glaubt nur, dass ihr es schon erhalten habt, dann wird es euch zuteil." (Mk 11,23/4) Darin also besteht die "neue Lehre" Jesu. Und das war's; davon, dass "Jesus [...] die Liebe zu einem neuen Gebot" machen und "immer wieder die Liebe als wichtigste seiner Lehren" betonen würde, findet sich im Markusevangelium nichts, gar nichts.
Und selbst mit dem Thora-Zitat: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (3 Mose 19,18), ist nicht die aufopfernde, sich selbst hingebende und verströmende Liebe gemeint, sondern schlicht und einfach die ethische Binsenweisheit: "Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu." - Das bedeutet die Einschränkung "lieben wie dich selbst". Selbst das Matthäus- und das Lukasevangelium bieten hier in Sachen "Liebe" nur wenig mehr: Bei Matthäus gesellt sich noch das Gebot der Feindesliebe hinzu, welches Lukas übernimmt (Lk 6,27/35), und bei Lukas findet sich das Gleichnis "vom barmherzigen Samariter".
Schauen wir uns zunächst das Gebot der Feindesliebe an: "Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen" (Mt 5,44). Diese Forderung ist Teil der sogenannten "Bergpredigt", einer längeren Pastoralrede des Evangelisten Matthäus. Will man verstehen, worum es bei dieser "Bergpredigt" letztlich geht, muss man etwas weiter ausholen. Zunächst fällt auf, dass die Rede eigentlich gar nicht zu den "Scharen von Menschen aus Galiläa, der Dekapolis, aus Jerusalem und Judäa und aus dem Gebiet jenseits des Jordan" (Mt 4,25) passt, die angeblich an den Lippen Jesu hängen. Wieso sollte es diese Menschen betreffen, wenn "Matthäus" Jesus sagen lässt: "Selig seid ihr, wenn man euch schmäht und verfolgt und alles Böse über euch redet um meinetwillen. Freut euch und jubelt: Denn euer Lohn wird groß sein im Himmel. So wurden nämlich schon vor euch die Propheten verfolgt." (Mt 5,11/12) Wieso sollten diese angeblichen Menschenmassen, die der angeblichen Rede von Jesus lauschten, "geschmäht und verfolgt" werden? Nun gut, könnte man sagen, eigentlich wendet er sich damit an seine Jünger, die ihn umstanden. Bloß - auch diese, die gerade erst von Jesus angeworben worden waren, sind bisher weder geschmäht noch verfolgt worden, ganz im Gegenteil, bisher war Jesu Zug durch Palästina ein einziger Triumphzug "und sein Ruf verbreitete sich in ganz Syrien" (Mt 4,24). Also auch wenn man diese Rede allein auf Jesu Jünger bezieht, ergibt sie keinen Sinn. Einen Sinn ergibt diese "Bergpredigt" erst dann, wenn man sie auf die Frühchristen und ihre Gemeinden zu Lebzeiten des Evangelisten Matthäus, also auf die Verhältnisse um etwa 80, 90 n. Chr. bezieht - mit den Verhältnissen zu der Zeit Jesu (ca. 30 n. Chr.) hat diese Rede nichts zu tun. So verstanden, erteilt Bischof Matthäus seinen judenchristlichen Gemeindeschäfchen mit dieser extremen Moralmaxime der Feindesliebe eine Lektion in Sachen Benimm unter den Gemeindemitgliedern, denn nach Karlheinz Deschner[8] "gestand schon Paulus von seinen eigenen Gemeinden, dass sie 'einander beißen und auffressen'. Grassierten doch, laut Neuem Testament, 'bittere Eifersucht und Zank' selbst unter den 'Rechtgläubigen', 'Unfrieden und alle Arten bösen Tuns', 'Streit und Krieg'. 'Ihr mordet und seid neidisch', 'ihr lebt in Kampf und Streitigkeiten [...]'." Das heißt also, die Aufforderung, seine Feinde zu lieben, bezieht sich ausschließlich auf die Mitglieder innerhalb der frühchristlichen Gemeinden. Was die äußeren "Feinde" der matthäischen judenchristlichen Gemeinden angeht, kennt Matthäus kein Pardon und keine Gnade: Er warnt seine Gemeinden vor den hellenistischen, paulinischen Heidenchristen: "Hütet euch vor den falschen Propheten; sie kommen zu euch in Schafskleidern, im Inneren aber sind sie reißende Wölfe." (Mt 7,15), und in 7,6 nennt Matthäus die Heidenchristen "Hunde" und "Schweine", die "sich umwenden und [sie] zerreißen [könnten]." Und den Pharisäern (und den Sadduzäern) droht er (Mt 3,10 f.): "Schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum, der keine gute Frucht hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen. [...] Schon hält er [der richtende Jesus kurz vor dem Jüngsten Tag] die Schaufel in der Hand; und wird die Tenne reinigen und den Weizen in seine Scheune sammeln; die Spreu aber wird er in nie erlöschendem Feuer verbrennen."
Und da die Juden sich so vehement gegen die Christianisierungsattacken der Christen wehren, werden "die Söhne des Reiches [Israels] [...] hinausgeworfen in die äußerste Finsternis, dort wird Heulen und Zähneknirschen sein" (Mt 8,12). Bei diesem Zitat deutet sich bereits eine Steigerung der Drohgebärden an, die bis zur Aberkennung des Status' "Auserwähltes Volk Gottes" durch den christlichen Bischof Matthäus führt: Matthäus, überrascht von den Erfolgen, die ihre Missionare unter Heiden erzielen, stellt den verstockten Juden zwei Beispiele als leuchtendes Vorbild vor Augen, einen römischen Hauptmann in Kafarnaum und eine Syrophönizierin in Tyrus: Über den Hauptmann heißt es (Mt 8,10): "Einen solchen Glauben habe ich in Israel noch bei niemand gefunden." Die Syrophönizierin in Tyrus wird gelobt (Mt 15,28): "Frau, dein Glaube ist groß." - Na also, es geht doch auch anders, und wenn ihr uneinsichtigen Juden nicht bald die Kurve bekommt, so wird "das Reich Gottes [...] euch weggenommen und einem Volk gegeben werden, das die Früchte des Reiches Gottes bringt" (Mt 21,43). "Das Hochzeitsmahl ist vorbereitet, aber die Gäste waren nicht würdig." (Mt 22,8)
Dass auch Jesus kein Pazifist war, belegen eine Reihe von Stellen im Markusevangelium: "[...] wer aber den Heiligen Geist lästert, der findet in Ewigkeit keine Vergebung, sondern seine Sünde wird ewig an ihm haften." (Mk 3,29) "Wenn man euch aber in einem Ort nicht aufnimmt und euch nicht hören will, dann geht weiter und schüttelt den Staub von euren Füßen, ihnen zum Zeugnis." (Mk 6,11) "Denn wer sich vor dieser treulosen und sündigen Generation meiner und meiner Worte schämt, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er mit den heiligen Engeln in der Herrlichkeit seines Vaters kommt." (Mk 8,38) "Wer einem von diesen Kleinen, die an mich glauben, Ärgernis gibt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworfen würde." (Mk 9,42) "Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt." (Mk 10,25) "Da sagte er zu ihm [dem Feigenbaum]: In Ewigkeit soll niemand mehr eine Frucht von dir essen." (Mk 11,14) "Der Menschensohn muss zwar seinen Weg gehen, wie die Schrift über ihn sagt. Doch weh dem Menschen, durch den der Menschensohn ausgeliefert wird! Für ihn wäre es besser, wenn er nie geboren wäre." (Mk 14,21)
Aber zurück zu Matthäus: Wie wir gesehen haben, gilt das Gebot der Feindesliebe nur unter den Christen, für die "bösen Feinde" der Christen dagegen gilt: Gib ihnen Saures! Auch die Lukas'sche Geschichte vom barmherzigen Samariter (Lk 10,30 ff.) ist kein Beispiel aufopfernder, hingebungsvoller und selbstverleugnender Liebe, sondern das, was dieser Samariter tut, zählt unser Strafrecht zu den Selbstverständlichkeiten menschlichen Verhaltens: §323c StGB: "Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft." Bezeichnenderweise schildert Lukas diese Geschichte nicht als ein Beispiel aufopfernder Liebe, sondern es werden die Begriffe Mitleid und Sorge verwendet.
Wir können hier also ein erstes Fazit ziehen: Die Aussagen, Jesus mache die Liebe zu einem neuen Gebot und Jesus betone immer wieder die Liebe als wichtigste seiner Lehren (s. o.), können wir nach den ersten drei kanonischen Evangelien des Neuen Testaments (Markus, Matthäus und Lukas) nicht bestätigen.
Anders sieht es aus, wenn wir uns die Paulus-Briefe und das Johannesevangelium vornehmen. Hier ist tatsächlich massiv und ausdrücklich von Liebe die Rede und wir werden uns das gleich näher ansehen; das Problem dabei ist nur: Der Jesus des Johannesevangeliums ist eine vom Evangelisten geschaffene Kunstfigur, die nie real über diese Erde wandelte. Der Jesus des Johannesevangeliums hat mit dem historischen Juden Joshua nichts zu tun; der Jesus des Johannesevangeliums ist eine fiktive Gestalt, ein Jesus Christus, geschaffen zu dem Zweck, dem Leser eine bestimmte Theologie zu vermitteln, die nicht vom historischen Jesus stammt, sondern von dem Johannesevangelisten. Und ebenso stammt auch das Liebesgebot in den Paulus-Briefen nicht vom historischen Jesus, sondern explizit von dem Briefeschreiber Paulus von Tarsus. Schauen wir uns das näher an.

Wie wir oben bereits gesehen haben, ging es in den frühchristlichen Gemeinden oft alles andere als friedlich und liebevoll zu. Damals waren die christlichen Gemeinden noch Kommunen: Man lebte und wirtschaftete zusammen; es waren Gruppen von Menschen, die beim Eintritt alles in die Kommune einbrachten und alles mit den anderen teilten, und dort, wo Menschen in Gruppen dauerhaft zusammenleben, entstehen Konflikte und Reibereien. Und Paulus hatte seine liebe Not, in den von ihm gegründeten (heiden-) christlichen Gemeinden für halbwegs geordnete Verhältnisse zu sorgen. Im täglichen Gemeindealltag wandelten die Gemeindemitglieder eben noch nicht im "Geiste Gottes", sondern durchaus noch "im Fleische", waren ihre "Leidenschaften und Lüste" durchaus nicht vernichtet, sodass Paulus sich oft genug genötigt sah, seinen Schäfchen mit klaren ethischen Maximen einzubläuen, wie sich ein "Erwählter" in der "Seinsweise der Auferstehung" zu verhalten hatte:

Gal 5,19-25: "Die Werke des Fleisches sind deutlich erkennbar: Unzucht, Unreinheit, Ausschweifung, Götzendienst, Zauberei, Feindschaften, Streit, Eifersucht, Jähzorn, Eigennutz, Spaltungen, Parteiungen, Neid, maßloses Trinken und Essen und Ähnliches mehr. Ich sage euch voraus, wie ich es früher vorausgesagt habe: Wer so etwas tut, wird das Reich Gottes nicht erben. Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Enthaltsamkeit; gegen all das ist das Gesetz nicht. Die zu Christus Jesus gehören, haben das Fleisch und damit ihre Leidenschaften und Begierden gekreuzigt. Wenn wir im Geist leben, lasst uns auch im Geist wandeln!"
1. Kor 12,31-13,8: "Strebt aber nach den höheren Gnadengaben! Dazu zeige ich euch einen überragenden Weg: Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke. Und wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis hätte; wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts. Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte und wenn ich meinen Leib opferte, um mich zu rühmen, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts.
Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe hört niemals auf."
1. Thess 5,14-22: "Wir ermahnen euch, Brüder und Schwestern: Weist die zurecht, die ein unordentliches Leben führen, ermutigt die Ängstlichen, nehmt euch der Schwachen an, seid geduldig mit allen! Seht zu, dass keiner dem andern Böses mit Bösem vergilt, sondern bemüht euch immer, einander und allen Gutes zu tun! Freut euch zu jeder Zeit! Betet ohne Unterlass! Dankt für alles; denn das ist der Wille Gottes für euch in Christus Jesus. [...] Prüft alles und behaltet das Gute! Meidet das Böse in jeder Gestalt!"
Gal 5,13: "[...] dient einander in Liebe."
Gal 5,26-6,1: "Lasst uns nicht prahlen, nicht einander herausfordern und einander nicht beneiden! Brüder und Schwestern, wenn ein Mensch sich zu einer Verfehlung hinreißen lässt, so sollt ihr, die ihr vom Geist erfüllt seid, ihn im Geist der Sanftmut zurechtweisen. Doch gib Acht, dass du nicht selbst in Versuchung gerätst!"
Röm 12,9-21: "Die Liebe sei ohne Heuchelei. Verabscheut das Böse, haltet fest am Guten! Seid einander in brüderlicher Liebe zugetan, übertrefft euch in gegenseitiger Achtung! Lasst nicht nach in eurem Eifer, lasst euch vom Geist entflammen und dient dem Herrn! Freut euch in der Hoffnung, seid geduldig in der Bedrängnis, beharrlich im Gebet! Nehmt Anteil an den Nöten der Heiligen; gewährt jederzeit Gastfreundschaft! Segnet eure Verfolger; segnet sie, verflucht sie nicht! Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden! Seid untereinander eines Sinnes; strebt nicht hoch hinaus, sondern bleibt demütig! Haltet euch nicht selbst für klug! Vergeltet niemandem Böses mit Bösem! Seid allen Menschen gegenüber auf Gutes bedacht! Soweit es euch möglich ist, haltet mit allen Menschen Frieden! Übt nicht selbst Vergeltung, Geliebte, sondern lasst Raum für das Zorngericht Gottes; denn es steht geschrieben: Mein ist die Vergeltung, ich werde vergelten, spricht der Herr. Vielmehr: Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen, wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken; tust du das, dann sammelst du glühende Kohlen auf sein Haupt. Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute!"
Röm 14,13: "Daher wollen wir uns nicht mehr gegenseitig richten. Achtet vielmehr darauf, dem Bruder keinen Anstoß zu geben und ihn nicht zu Fall zu bringen!"

Auch der Johannesevangelist wendet sich an seine Gemeindeschäfchen, wenn er vom Liebesgebot spricht:
Joh 13,34: "Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben."
Joh 13,35: "Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt."
Joh 15,12: "Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, so wie ich euch geliebt habe."
Joh 15,13: "Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt."
Joh 15,17: "Dies trage ich euch auf, dass ihr einander liebt."

Das heißt also, wenn Paulus und der Johannesevangelist fordern, man solle einander lieben, so sind damit immer nur die Mitglieder der christlichen Gemeinden gemeint. Für sie ist die gegenseitige Liebe Garant für die Aufnahme in Gottes Reich, von dem Paulus glaubte, er werde dessen Kommen noch vor seinem Tod erleben.
Alle, die zwar das Christentum kennengelernt haben, aber außerhalb geblieben sind, können, wenn es nach Paulus und dem Johannesevangelisten geht, zur Hölle fahren; auf diese erstreckt sich die "christliche" Liebe nicht: "Wer den Herrn nicht liebt, sei verflucht!" (1 Kor 16,22) "Soweit es euch möglich ist, haltet mit allen Menschen Frieden! Übt nicht selbst Vergeltung, Geliebte, sondern lasst Raum für das Zorngericht Gottes; denn es steht geschrieben: Mein ist die Vergeltung, ich werde vergelten, spricht der Herr. Vielmehr: Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen, wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken; tust du das, dann sammelst du glühende Kohlen auf sein Haupt." (Röm 12,9-21)
Wir können hier ein zweites Fazit ziehen: Lieben sollen sich nur die christlichen Gemeindemitglieder untereinander; alle anderen Menschen sind Kinder dieser Welt und gehören nicht zu den von Gott von Anbeginn an Auserwählten, sie fallen also letztlich dem Satan anheim und brauchen folglich auch nicht geliebt zu werden. So hat die Kirche in ihrer Geschichte nie einen Widerspruch darin gesehen, Zigtausende Menschen umzubringen oder umbringen zu lassen und zugleich ihren Schäfchen von den Kanzeln das paulinisch-johanneische, also das christliche Liebesgebot in Erinnerung zu rufen.

Eine weitere Unwahrheit: Jesus sei ein "Wanderprediger" gewesen. Jesus war kein Wanderprediger. Dass er mit seinen zwölf Helfern in Galiläa und im Norden den Juden das Evangelium verkündet hat, ist unbestritten, darüber hinaus aber hatte er - wie wir oben gesehen haben - nichts mehr zu predigen, keine neue Ethik, kein revolutionäres Reformjudentum - nichts dergleichen. Das schließt nicht aus, dass er in einigen Punkten eine vom jüdischen Mainstream abweichende Sichtweise hatte - aber das war im damaligen Judentum alles andere als unüblich: Obwohl er als Jude die Thora konsequent als verbindlich für sich und Israel ansieht, scheut sich Jesus nicht - als Pharisäer gerade mit einer "Frauenfrage" seine Thora-Treue testen wollen -, die Thora dezent zugunsten der Frauen zu "korrigieren" (Mk 10,2-5); konsequent tritt er für eine Gleichstellung von Frau und Mann ein (Mk 10,11/2). Auch in Jesu Kritik an den Pharisäern zeigen sich durchaus reformerische Tendenzen: Jesus wie die Pharisäer bejahen das Gesetz, wie es in der Thora niedergelegt ist. Da man manche Gebote unterschiedlich verstehen und auslegen könne bzw. diese nur einen groben Rahmen absteckten, sei es erforderlich - so die Pharisäer -, die Gesetze zu erläutern, zu interpretieren, zu "verfeinern". Diese Kommentare zur Thora nennt man mündliche Thora und diese lehnt Jesus entschieden ab (Mk 7,8-13): "Ihr gebt Gottes Gebot preis und haltet euch an die Überlieferung der Menschen [soweit als Zitat von Jesaja]. Und weiter sagte Jesus: Sehr geschickt setzt ihr Gottes Gebot außer Kraft und haltet euch an eure eigene Überlieferung."
Ein weiterer wesentlicher Unterschied besteht in der Art der Frömmigkeit: Die Pharisäer legen das Gewicht auf die Pflicht, alle Gebote wortwörtlich und bis ins Kleinste zu erfüllen - das sei es, was Gott von seinem Volk verlange. Jesus kritisiert diese Sichtweise mehrfach scharf (Mk 7,6/7): "Er antwortete ihnen: Der Prophet Jesaja hatte Recht mit dem, was er über euch Heuchler sagte: Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, sein Herz aber ist weit weg von mir. Es ist sinnlos, wie sie mich verehren [...]." Einen Schriftgelehrten belehrt er (Mk 12,30): "Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele [...]", und den einsichtigen Schriftgelehrten lässt "Markus" antworten (Mk 12,33): "[...] und ihn mit ganzem Herzen [...] zu lieben [...] ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer." "Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer!" (Mt 9,13/12,7) Es ist also jenes teilnahmslose, gebetsmühlenartige, schematisierte "Verehren" Gottes durch die Pharisäer und Sadduzäer, welches Jesus entschieden ablehnt. Du sollst nicht Worthülsen und leeren Rauch zu Gott schicken, sondern du sollst mit deinem Herzen bei der Sache sein.
Auf derselben Linie liegt Jesu Haltung zur Sabbat-Ruhe. Die Pharisäer pochen auf die strikte Einhaltung des Sabbat - und wenn du dadurch umkommst: Du musst unter allen Umständen Gottes Gebot befolgen. Jesus jedoch ist hier Pragmatiker: Ja, Gott gebietet mir die Einhaltung des Sabbat; wenn es die Umstände aber erfordern, kann ich dieses Gebot jedoch auch auf meine Bedürfnisse zuschneiden (Mk 2,27). Auch die strengen jüdischen Reinheitsvorschriften kritisiert Jesus. Als seine Jünger mit ungewaschenen Händen essen und Jesus deswegen u. a. von den Pharisäern gerügt wird, "erklärte Jesus alle Speisen für rein" (Mk 7,19).
Klar ist: Alle diese Auseinandersetzungen in einzelnen Punkten waren immer Auseinandersetzungen innerhalb des Judentums und gingen nur die Juden was an. Was hätte die Inder Jesu Haltung zur Sabbat-Ruhe interessiert oder Jesu Kritik an den jüdischen Reinheitsvorschriften? Es gab also eigentlich nichts, was Jesus den Indern hätte predigen können, weshalb hätte er da zu ihnen ziehen sollen?
Auch nachdem Jesus nach seiner "Auferstehung" untergetaucht war, blieb er mit Sicherheit ganz Jude, erwartete er wie seine Jünger in Jerusalem das nahe Kommen seines Gottes, Jahwes, glaubte er wohl auch, dass Gott ihn zum Messias ausersehen hatte - und dazu musste er im "Gelobten Land" oder in seiner unmittelbaren Nähe bleiben - in Indien hätte er seinen Gott und dessen Ruf an ihn verpasst. Und das heißt: Der Jude Jesus konnte von seinem Selbstverständnis her nicht nach Indien gegangen sein.

Anmerkungen

1. https://www.focus.de/wissen/mensch/religion/christentum/krude-theorien-zu-jesu-tod-auf-dem-pruefstand-mythos-vs-wissenschaft_id_2246912.html (22.12.24, 11.51)
2. Martin, Wolfgang: Was Sie schon immer über Jesus wissen wollten. 2., erweiterte Auflage. Berlin: Martin, Wolfgang, 2018
3. Grönbold, Günter: Jesus in Indien - Das Ende einer Legende. München: Kösel, 1985 4. https://www.talkirche.de/glaube/christlicher-glaube (24.10.22)
5. Katechismus der Katholischen Kirche. München: R. Oldenbourg, 1993, S. 482
6. Bezugnahme auf Joh13,34: "Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben."
7. https://wiki.yoga-vidya.de/Christliche_Liebe (22.10.22)
8. Deschner, Karlheinz: Kriminalgeschichte des Christentums. Bd. 1, Die Frühzeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1986, S. 152

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