.
Am 25. März jährt sich der Todestag nicht nur einer großen Theologin, sondern auch einer wundervollen Frau, die 2021 mit 93 Jahren von uns gegangen ist: Uta Ranke-Heinemann, Tochter des Bundespräsidenten Gustav Heinemann (1899 - 1976; Amtszeit: 1969 - 1974). Die katholische Kirche muss davon ausgehen, dass Uta in der Hölle schmort, denn Uta galt der Kirche als Ketzerin, prangerte sie doch den vielen Unsinn kirchlicher Glaubenssätze an, so etwa - um nur einige wenige zu nennen -, dass die Mutter Jesu, Maria, Jungfrau geblieben sei oder dass Jesus in einem Stall zu Betlehem auf die Welt gekommen sei, wie uns das "Lukas"-Evangelium weismachen will.
Wie wurde aus Uta jene Rebellin, die wie keine andere die Kirche an ihrem eigenen theologischen Nasenring vorführte und den Theologen, ihren männlichen(!) Kollegen, Feuer unter dem Hintern machte? Nun, das ist schnell erklärt: Sie war jung, sie war intelligent und - sie war eine Frau (etwas, was der katholischen Kirche - selbst entgegen anders lautender Erklärungen - bis heute ein Gefühl des Unbehagens erzeugt), und Frauen neigen gerade dann, wenn Männer versuchen, sie anzulügen, zu militanter Ehrlichkeit. Und ehrliche Theologen sind bei der Kirche weder erwünscht noch werden sie geduldet. Uta, die am 26. Januar 1970 die erste Professorin im Fach (katholische) Theologie geworden war, wurde am 15. Juni 1987 von dem Essener Bischof Franz Hengsbach die Lehrbefugnis für katholische Theologie entzogen, weil sie in einer Fernsehsendung die Richtigkeit des kirchlichen Dogmas der Jungfrauengeburt angezweifelt hatte. Dies war lediglich der Schlusspunkt einer Entwicklung. Uta benutzte nämlich bei der Vorbereitung auf ihre Vorlesungen und Seminare an der Uni statt des Glaubens ihren Verstand - etwas, was zwangsläufig zu einer Entfremdung zwischen ihr und der Kirche führen musste, denn die Kirche verlangt von ihren Mitgliedern Glauben und nicht die Benutzung des Verstandes. Und wenn die Kirche verlangt, man solle daran glauben, dass Jesus auf dem See Genezareth herummarschiert sei, dann hatte das ihre Theologin Uta gefälligst den Studentinnen und Studenten zu vermitteln und nicht anzuzweifeln.
Im Grunde genommen wurde Uta Opfer eines Irrtums: Sie glaubte, auch im Fach Theologie würde - wie in allen anderen Fächern - gelehrt und Forschung betrieben mit dem Ziel, die Gegenstände ihres Faches gewissenhaft und der Wahrheit verpflichtet zu erforschen und das Wissen darum zu mehren und zu lehren. Trifft dies bei allen anderen Fächern zu - bei der Theologie nicht. "In der Praxis ist [...] der Zugang zum Lehrstuhl [der theologischen Fakultät] problematisch. Denn Theologen können meist nur mit ausdrücklichem Einverständnis der Kirchen an Universitäten lehren, die Kirchen haben sich ein Mitbestimmungsrecht (auf diese vom Staat bezahlten Lehrstühle) sichern können. Die zu Berufenden wissen das und nehmen darauf natürlich Rücksicht, wenn sie beruflich vorwärts kommen wollen. Ohne ein gewisses Maß an Opportunismus bekommt man als Wissenschaftler keinen Fuß in die theologische Fakultät. Und auch wer schon drin ist, tut gut daran, sich ruhig zu verhalten und solche die Institution Kirche hinterfragenden Ergebnisse der Forschung [...] nicht allzu laut kundzutun."1
"Theologen an Universitäten wissen also, was von ihnen verlangt wird, und verhalten sich entsprechend. Für Atheisten oder auch nur aus der Kirche Ausgetretene gilt: Sie müssen draußen bleiben, selbst wenn sie ein noch so genialer Forscher und Historiker wären. [...]
Viele Professoren an theologischen Fakultäten waren ehemals Pfarrer oder haben zumindest ein kirchliches Vikariat absolviert. Je mehr sie aber gläubig sind, desto mehr darf man ihre wissenschaftliche Vorurteilsfreiheit in Frage stellen. [...]"
"[...] für die katholischen Fakultäten an staatlichen Universitäten" war "mindestens bis zum zweiten Vatikanischen Konzil (1962 - 1965) eine freie Forschung für die Gelehrten nicht möglich [...], ohne mit Repressalien bei 'unkatholischen' Ergebnissen zu rechnen." (Anmerkung: "Dass aber auch die liberale protestantische Kirche zu Restriktionen greifen kann, zeigte der Fall des Göttinger Neutestamentlers Gerd Lüdemann, der die Auferstehung Jesu offen leugnete.")2
"Auch wenn in den exegetischen und geschichtlichen Fächern durchaus wissenschaftlich gearbeitet wird, ist die Theologie als Ganzes natürlich keine Wissenschaft. [...] Sie ist es deshalb nicht, weil die Kirchen wissenschaftsfremde Einflüsse auf die Besetzung von Professuren nehmen und ein der Kirche genehmes, opportunistisches Verhalten eines Bewerbers vor der Berufung provozieren. [...] Theologie versteht sich selbst als 'Funktion der Kirche', es ging und geht ihr nie um zweckfreie Forschung. Wo Theologie gelehrt wird, also im Bereich staatlicher Universitäten, 'da befindet man sich im Raum der Kirche' (Karl Barth)."3
Diese Zusammenhänge scheinen also Uta nicht wirklich klar gewesen zu sein, als sie als Professorin ihr Lehramt im Fach (katholische) Theologie 1970 antrat. So forschte sie - was ja eigentlich die Kernaufgabe eines Professors ist - und ihre Ergebnisse kollidierten mit den Dogmen, den Glaubenssätzen, ihrer Kirche (s. o.). "Die Leute sagen oft: Ach, was sind Sie mutig, Frau Ranke-Heinemann! Da antworte ich stets: Moment mal, wieso denn das? Schon damals habe ich betont: Ich hätte mich bestimmt nicht so radikal geäußert, dass ich meinen Lehrstuhl verlor, wenn ich dafür nach katholischer Sitte früherer Zeiten auf dem Essener Burgplatz verbrannt worden wäre. Aber ich bin ja nicht nur nicht verbrannt worden, ich bin weiterhin Beamtin, das Gehalt läuft weiter. Ich erhielt einen neuen Lehrstuhl 'Religionsgeschichte', der vom Staat eingerichtet wurde und von der Kirche unabhängig ist."4 Das war nobel vom Staat und ganz gewiss auch eine schallende Ohrfeige für die Kirche, aber es sind doch Steuergelder, Steuergelder auch von vielen Menschen, die mit den Kirchen nichts am Hut haben; "die Unterhaltung theologischer Fakultäten, an denen der kirchliche Nachwuchs ausgebildet wird, lässt sich der Staat (und nicht etwa die Kirchen!) jährlich fast 280 Millionen Euro kosten."5
Aber zurück zu jener naiven jungen Frau, die versuchte, die (unerwünschten) Ergebnisse ihrer Forschung mit ihren Fachkollegen, den anderen Theologen, zu diskutieren. Was muss die Renaissance, die Zeit des Humanismus doch für eine glückliche Zeit gewesen sein, als die Wissenschaftler aller europäischen Länder in regem geistigen Austausch standen, als man Forschungsergebnisse miteinander teilte und erörterte. Was Uta erlebte, wenn sie ihre Fachkollegen im Gespräch auf offenkundige Ungereimtheiten in der kirchlich-theologischen Lehre angesprochen hat, schildert sie so: "Die Passionsgeschichte zeigt in besonderer Weise, wie die Evangelisten die historischen Daten und Fakten manipuliert haben. Einem Theologen - ob katholisch, protestantisch oder orthodox - darf man allerdings damit nicht kommen. Wenn man ihn auf Widersprüchlichkeiten und Unrichtigkeiten der Passionserzählungen hinweist, wird er zwar einiges zugeben, wird ihn das aber in seiner Überzeugung, dass es sich dennoch um das Wort Gottes handelt, letztlich nicht berühren.
Es gibt nämlich keinen Berufsstand, der derartig siegreich - mindestens in seinen eigenen Augen - aus allen Widerlegungen hervorschreitet wie der Theologenstand. Einen Theologen kann man praktisch nie widerlegen. Wenn man doch einmal glaubt, es sei einem gelungen, wenn man also alle Argumente der Logik und des historischen Beweises auf seiner Seite versammelt hat, dann wird es nur Sekunden dauern, bis der Theologe mit den Worten 'gerade deshalb...' oder 'gerade daran zeigt sich' oder ähnlich wie ein Phönix aus der Asche sich erhebt und die Niederlage in seinen totalen Sieg umzuwandeln beginnt, 'wie denn noch jeder große Theologe aus dem Mangel einen Reichtum ... zu machen verstanden hat' (Rudolf Augstein, Jesus Menschensohn, 1974, S. 230). Deshalb hat es z. B. auch nicht den geringsten Sinn, einem Theologen zu sagen - seinen Blick auf etwas zu lenken wäre schon der falsche Ausdruck, ein Theologe hat das alles selbstverständlich schon im Blick, bevor man es ihm sagt - also, es hat nicht den geringsten Sinn, einem Theologen zu sagen, dieser oder jener Bericht im Neuen Testament widerspricht diesem oder jenem anderen Bericht des Neuen Testaments.
Mitleidig wird der Theologe einem dann mitteilen, diese Widersprüchlichkeit zeige ja gerade, worauf es in der Heiligen Schrift ankomme. Nämlich überhaupt nicht auf das, was man da gegen die Aussagen der Schrift ins Feld führen möchte. Der Theologe wird etwa Folgendes sagen: 'Die Wahrheit der Schrift ist ... nicht die Richtigkeit ihrer Angaben über historische Fakten und Daten. Sie besteht nicht darin, dass alles so passiert ist, wie es dasteht. Das setzte ja voraus, dass sie geschrieben wäre, dem Menschen ... den vorgestellten Faktenverlauf zu garantieren und ihn dadurch selig zu machen, dass er über ein Bild der Vorgänge verfügt, das mit der Geschichte als Passiertem übereinstimmt' (Heinrich Schlier, Rudolf Bultmann, dem Achtzigjährigen, in: Besinnung auf das Neue Testament, 1964, S. 53)."6
Die Aufgabe der staatlich bestallten Theologen an unseren deutschen Universitäten ist schon lange nicht mehr, nach der Wahrheit zu suchen, wie das Albert Schweitzer noch anfangs des 20. Jahrhunderts als selbstverständlich vorausgesetzt hat.7 Ihr Auftraggeber ist nicht der Staat, auch wenn dieser sie bezahlt, sondern ihre Kirche und diese gilt es zu schützen, so abzuschirmen, dass sie auch noch weitere 2000 Jahre und länger Bestand hat. So haben wir die paradoxe Situation, dass die eigentliche wissenschaftliche Forschung im Bereich der Theologie außerhalb der Universitäten stattfindet und dort auch ausgezeichnete Ergebnisse erzielt. Dafür stehen u. a. Namen wie Schalom Ben-Chorin8, Johannes Lehmann9 oder Wolfgang Martin10; der große Wissenschaftler Hartmut Stegemann11 bildet hier lediglich eine rühmliche Ausnahme, die leider die Regel bestätigt.
Die Mehrzahl der Theologen an den Universitäten betrachtet es doch eher als ihre Aufgabe, dort, wo Forschungsergebnisse ihren Kirchen vermeintlich "gefährlich" werden könnten oder werden, solche Forschungsergebnisse in Zweifel zu ziehen oder in Misskredit zu bringen oder ihre Urheber zu diskreditieren. Dies lässt sich exemplarisch an der Leben-Jesu-Forschung (heute: historische oder historisch-kritische Jesusforschung) verdeutlichen.
Heute wissen wir über Jesus wesentlich besser Bescheid als noch vor einigen Jahren, wir kennen essenzielle Fakten seiner Biografie, wir kennen seine "neue Lehre", seine (jüdische) Religiosität, sein Weltbild, seinen geistigen Hintergrund, seine Mentalität, sodass sich das heutige (wissenschaftliche) Jesusbild zuverlässig in aller Kürze so zeichnen lässt: Jesus war Sohn einer gewissen Maria und hatte mehrere Brüder und Schwestern. Offenbar fehlte - zumindest zeitweilig - der Vater, sodass Maria das alleinige Familienoberhaupt bildete. Die Familie lebte in der Stadt Kafarnaum am See Genezareth in Galiläa in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts n. Chr. Jesus war fest in der jüdischen Glaubenswelt verwurzelt und gesetzestreu (befolgte also die Ge- und Verbote der Thora gewissenhaft). Er schloss sich der eschatologischen Strömung der damaligen Zeit an. Diese ging davon aus, dass das Ende der bisherigen Welt bevorstehe, und die Essener, eine jüdische Glaubensgemeinschaft, hatten aufgrund der Prophetentexte das Jahr 70 n. Chr. als Abschlusstermin von Gottes Endgericht errechnet. Davor läge noch eine chaotische, schreckliche vierzigjährige Endzeit, die dann folgerichtig im Jahr 30 oder 31 n. Chr. zu beginnen hatte. In dieser Endzeit würde ein Messias an der Seite Gottes die Mächte der Finsternis niederringen (Satan mit seinem Dämonenheer und dem Tod); nach dem Propheten Maleachi müsse jedoch vor dem Kommen dieses Messias' noch der Prophet Elia zurückkehren.
Als nun ein gewisser Johannes am Jordan beim Ort Betanien beginnt, alle Juden, die Besserung und einen thoragerechten Lebenswandel gelobten, im Jordan zu taufen, war für Jesus klar, dass Johannes der wiedergekehrte Elia sei und somit der Beginn des Reiches Gottes auf Erden unmittelbar bevorstehe - so, wie es dieser Johannes ja auch verkündete. Jesus brach aus Kafarnaum auf und zog zu Johannes an den Jordan, von dem er sich taufen ließ und dessen Jüngerkreis er sich anschloss. Da die Johannes-Gruppe von der Bevölkerung Nazoräer, "die Bewahrer" (vor der ewigen Verdammnis in Gottes Endgericht), genannt wurde, nannte man Jesus "den Nazoräer", was mit dem Ort Nazaret nichts zu tun hat, sondern seine Zugehörigkeit zum Johannes-Kreis meint. Nachdem Johannes/Elia von seinem Landesherrn Herodes Antipas in den Kerker geworfen worden war, folgerte Jesus, dass sich nun das angekündigte Kommen von Gottes Reich tatsächlich vollziehen müsse. Der verwaiste nazoräische Jüngerkreis wartete auf Gottes Erscheinen, aber Gott kam nicht. Jesus glaubte zu wissen, woran es liege: Bevor Gott käme, müsse noch gemäß dem Propheten (Deutero-) Jesaja ein "Gottesknecht" für die Sünden seines (jüdischen) Volkes Sühne leisten und sich dafür (in Jerusalem) kreuzigen lassen. Seine Mit-Nazoräer hielten dies für unzutreffend, Gott würde unmöglich ein solches Menschenopfer verlangen. Je eifriger seine nazoräischen Genossen ihrem Kampfgefährten Jesus diese Idee auszureden versuchten, desto sturer und fanatischer verrannte sich Jesus in diese Ansicht. Schließlich erklärt er, dass er dann eben selbst dieses Gottesknechtsopfer auf sich nehmen werde. (Insgeheim war er sich sicher, dass er, vermeintlich gemäß Jesaja, nach vollbrachter Kreuzigung von Gott vom Kreuz herab als Messias gekürt werden würde und an der Seite Gottes diesen vierzigjährigen Endkampf gegen die Mächte der Finsternis durchfechten werde.) Während Jesus trotzig nach Kafarnaum zurückkehrte, um unter seinen alten Freunden und Bekannten welche zu finden, die bereit waren, mit ihm das Werk des Johannes in modifizierter Form fortzuführen und zu Ende zu bringen (Verkündigung des Evangeliums), beschlossen einige seiner Mit-Nazoräer, ihren sturen Jesus möglichst nicht ins Verderben rennen zu lassen: Sie wollten ihn im Auge behalten und ihn - falls er seine Absicht in Jerusalem verwirklichen sollte - irgendwie retten.
Jesus gelang es, in seiner Heimatstadt Kafarnaum und ihrer Umgebung eine ganze Reihe von Leuten für seine Evangeliumsverkündigungstour zu gewinnen, wovon er wohl zwölf junge Männer zu seinem Jüngerkreis erklärte. Von seiner Absicht, sich am Ende in Jerusalem kreuzigen zu lassen, ließ er zu diesem Zeitpunkt noch nichts verlauten. Da Jesus fest daran glaubte, dass nach Johannes' Einkerkerung das Reich Gottes auf der Erde bereits angebrochen sei, war er auch davon überzeugt, dass der nun zwar noch unsichtbare, aber tatsächlich wieder bei seinem Volk anwesende Gott allen, die sich in unbedingtem Vertrauen auf Gottes unmittelbares Wirken mit Bitten an ihn wandten, diese Bitten auch erfüllen würde ("Alles kann, wer glaubt!").
Nachdem diese Jesustruppe ihre Verkündigungstour nach Jesu Dafürhalten abgeschlossen hatte, bereitete Jesus sie auf seine beabsichtigte Kreuzigung in Jerusalem vor. Begeistert war seine Schar davon nicht, und in Jerusalem, bei seiner Kreuzigung und in der unmittelbaren Zeit danach machte sich gerade sein männlicher Anhang in der Öffentlichkeit extrem rar.
In Jerusalem provozierte Jesus die jüdische Obrigkeit dermaßen, gab sie in aller Öffentlichkeit dem Spott der vielen Pessach-Pilger preis, dass diese gar nicht anders konnte, als ihn zu verhaften und ihm den Prozess zu machen - wollte sie ihr Gesicht nicht völlig verlieren. Aber genau das wollte Jesus ja erreichen. Nachdem der Prozessverlauf keine klaren Anklagepunkte für eine Verurteilung erbracht hatte, fragte der Hohepriester rundheraus: "Bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobten?" Und Jesus bejahte und bekräftigte es, womit das Gericht einen eindeutigen Schuldbeweis in den Händen hielt: Gotteslästerung. Pilatus segnete als zuständige Besatzungsmacht das Todesurteil ab und Jesus wurde - so, wie er das angestrebt hatte, - gekreuzigt. Aber wider Erwarten kam Gott - trotz inständigen, gläubigen Bittens vonseiten Jesu - nicht; keiner löste seine Fesseln und bestimmte ihn zum Messias und Jesus beschwerte sich lautstark ob dieser Unzuverlässigkeit seines Gottes: "Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"
Währenddessen waren unsere nazoräischen "Verschwörer", diese kleine Gruppe nazoräischer Freunde Jesu, die sein Leben retten wollten, nicht untätig geblieben. Eingedenk der römischen Gepflogenheit, bei einer Kreuzigung einen Schwamm bereitzustellen, mit dem man dem Gekreuzigten mittels eines Stocks Flüssigkeit zuführen konnte, hatte unsere kleine Verschwörertruppe einen Schwamm mit einem "Schlaftrunk" präpariert, möglicherweise wie man ihn zur damaligen Zeit bei Bauchoperationen als Narkosemittel verabreichte.12 Nachdem sie Jesus auf diese Weise ins Traumland geschickt hatten, erwirkte der Jesus-Anhänger Josef von Arimathäa, "ein vornehmer Ratsherr", von Pilatus die rasche Freigabe der "Leiche" zur Beerdigung (das Pessachfest stand unmittelbar bevor!) und "in der Grabkammer konnten nun die Nazoräer - völlig ungestört - Jesus wieder wecken"13.
Vermutlich sah Jesus seine wunderbare "Auferstehung" als das Werk Gottes, seine nazoräischen Retter als Gottes Werkzeuge; es war zwar nicht so abgelaufen, wie er sich das gedacht hatte, aber wenn Gott ihn jetzt so auf diese Weise errettet hatte, dann musste er, Jesus, doch eine Rolle in Gottes Plan spielen - und so konnte Jesus ganz in seiner eschatologischen Gedankenwelt verbleiben. Seine Retter veränderten, bevor sie den Gekreuzigten wieder in die Welt entließen, sein Aussehen (er wurde zunächst nicht von Bekannten erkannt), damit er nicht gleich von der nächstbesten römischen Patrouille als "Kreuzesflüchtling" gestellt wurde und erneut am Kreuz landete - dann aber wohl endgültig. Es kam nun noch zu einem, vielleicht auch zu mehreren Treffen mit seinem Jüngerkreis und die Jünger, die von der Rettungsaktion der alten nazoräischen Freunde Jesu keine Ahnung hatten, kamen zu der Überzeugung, Jesus sei von den Toten auferstanden. Schließlich war es für den gekreuzigten "Verbrecher" Jesus an der Zeit, endgültig von seinen Jüngern Abschied zu nehmen und unterzutauchen, denn die römische Besatzungsmacht hatte in dieser Beziehung wenig Humor.
Sicherlich wird Jesus beim Abschied von seinen Jüngern diese noch darin bestärkt haben, auszuharren, bis er bald, sehr bald "mit den Wolken des Himmels" als Messias an der Seite Gottes wiederkehren und die Zeit des Endkampfes eröffnen werde. Die Legende wird später aus diesem Abschied Jesu von seinem Anhang die Himmelfahrt machen. Wo sich Jesus verborgen hielt, wie lange er dort ausharrte, ob er - nachdem Gott weiter auf sich warten ließ - seinen Aufenthaltsort gewechselt hat, ob er an seiner ursprünglichen Überzeugung irregeworden ist - wir wissen es nicht und werden es wohl auch nie erfahren. Tatsache ist, dass er bis heute nicht wieder aufgetaucht ist. Zurück blieben seine Jünger, überzeugt, ihr Messias Jesus sei nach drei Tagen von den Toten auferstanden. Davon waren sie - wie wir gesehen haben, aus guten Gründen - felsenfest überzeugt, hatten sie ihn doch gesehen, mit ihm gesprochen und sich von ihm verabschiedet und für ihre Überzeugung ließen sie sich auch - wenn es hart auf hart kam - von der jüdischen Obrigkeit steinigen.
Nachdem seine Jünger zunächst im Gebet passiv darauf gewartet hatten, dass Jesus "mit den Wolken des Himmels zur Rechten der Macht" wiederkehren werde und die vierzigjährige Endzeit beginnen würde, kamen sie, als diese Wiederkehr Jesu ausblieb, zur Überzeugung, ihr Messias Jesus erwarte vor seiner Wiederkehr, dass sie der jüdischen Mitwelt Jesus als den ersehnten Messias verkündeten und die Juden zum Glauben an den Messias Jesus brachten (Paulus weitet dies dann auch auf die "Heiden" aus). Da es aber lächerlich gewesen wäre, den Juden den Beginn der messianischen Endzeit zu verkünden, ohne diesen Messias vorweisen zu können, vertraten sie die Ansicht, Jesus halte sich vorläufig noch im Himmel bei seinem "Vater" auf (wozu er natürlich irgendwann vorher in den Himmel aufgefahren sein musste) und warte nur noch darauf, dass die Juden an ihn als Messias glaubten; dann werde er ganz gewiss ohne Verzug "mit den Wolken des Himmels zur Rechten der Macht" wiederkehren.
Diese Vorstellung näherte sich damit so sehr der himmlischen Gestalt des göttlichen "Menschensohns" des Henochbuches an, dass es zu einer Identifikation Jesu mit dem göttlichen Heiland und Erlöser aus dem Henochbuch kam und somit aus dem Kafarnaumer Bauhandwerker Jesus der göttliche "Menschensohn" des Henochbuches wurde. Da das Henochbuch den Ausgangspunkt einer Glaubensrichtung bildete, die später mit dem Begriff "Gnosis" (Erkenntnis) bezeichnet wurde, wird auf diese Weise Jesus zur Galionsfigur einer neuen, einer gnostischen Religion, in der er als göttlicher Gottessohn von seinem Gottvater auf die Erde gesandt wird, um den von Anbeginn der Welt Auserwählten ihre Auserwählung bewusst zu machen und ihnen den (Rück-) Weg in den Himmel zu Gott zu weisen (siehe das "Johannes"-Evangelium).
Man muss eigentlich gar nicht so viele Bücher lesen, um diese Zusammenhänge zu begreifen. Allein schon das gewissenhafte, unvoreingenommene Studium des "Markus"-Evangeliums liefert so viele wertvolle Fakten für die Leben-Jesu-Forschung, dass es verwundern könnte, dass die "Forschungs"-Ergebnisse der staatlich bestallten und kirchlich geführten Theologen so überaus mager und widersprüchlich ausfallen. Betrachtet man sich jedoch die dogmatischen Gitterstäbe, mit denen die Kirchen und die Theologen selbst sich so heillos eingesperrt haben, dann verwundert einen das nicht mehr. Da ist - um ein Beispiel zu nennen - das Postulat der Kirchen, beim Neuen Testament würde es sich um das Wort Gottes handeln, die Texte seien also "heilig" und somit nicht nur unantastbar, sondern sie stellten zugleich die oberste Autorität dar. Das ignoriert, dass es "damals viele Jahrhunderte lang gang und gäbe [war], einer literarisch fixierten Person, die einem bestimmten Personenkreis als hohe Autorität galt, wie zum Beispiel bei den Juden Moses oder - bei den Christen - Jesus, alles Mögliche in den Mund zu legen, wobei es oftmals so offenkundig ist, dass diese Person aus einleuchtenden Gründen das in den Mund Gelegte nicht gesagt haben kann, dass sich vermuten lässt, dass die Rezipienten dieser Texte auch gar nicht unbedingt von deren Authentizität ausgegangen sind. Wenn beispielsweise Jesus im 'Matthäus'-Evangelium Petrus zum Führer der (christlichen) Kirche ernennt (Mt16,18/9), so kann das Jesus gar nicht gesagt haben, weil es zu seiner Zeit noch keine (christliche) Kirche gab. So kann man beispielsweise bei 'Matthäus' davon ausgehen, dass Jesus keine der dort verzeichneten längeren Reden einschließlich der 'Bergpredigt' gehalten hat, und ich denke, die damaligen Leser dieser Texte wussten, dass diese Reden von ihrem 'Bischof' 'Matthäus' stammten, dass sich hier 'Matthäus' mit bestimmten Anliegen an seine christlichen Gemeindemitglieder wendete.
Wenn also ein heutiger Leser all diese literarischen Fiktionen (eben z. B. dass diese und jene Rede tatsächlich von Jesus stamme) für bare Münze nimmt, so versperrt er sich geradezu den Weg zu einer zutreffenden Textinterpretation, ja, man kann dann sogar den Eindruck bekommen - wenn man alle angeblichen Jesus-Worte in den vier kanonischen Evangelien für authentisch hält - Jesus sei schizophren, paranoid, also rund heraus geisteskrank gewesen, wie das Psychiater an der Wende des 19. Jahrhunderts zum 20. Jahrhundert aufgrund seiner angeblichen Äußerungen diagnostizierten. (Siehe dazu die Schrift 'Die psychiatrische Beurteilung Jesu. Darstellung und Kritik' von Albert Schweitzer)"14
Die missbräuchliche Verwendung dieses Bauhandwerkers aus Kafarnaum, Jesus, beginnt bereits bei dem Evangelisten "Matthäus". Was der Jude Jesus seinen jüdischen Mitbürgern verkündete, war das Evangelium und seine "neue Lehre", also einmal: "Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist angebrochen, die Macht des Satans gebrochen, die Ankunft Gottes auf Erden im ‚Gelobten Land' (Israel) steht unmittelbar bevor; wer in Ewigkeit mit Gott im Paradies zusammensein möchte, sollte schleunigst 'umkehren', seine Sünden bereuen und die Gebote (Thora) mit dem Herzen erfüllen."15 Und das ist zum Zweiten: Das Reich Gottes ist bereits angebrochen, Gott ist wieder - wenn auch vorläufig noch unsichtbar - bei seinem Volk unmittelbar anwesend und jeder, der sich mit einer Bitte gläubig und in vollstem Vertrauen an ihn wendet, bekommt von Gott seinen Wunsch erfüllt ("Alles kann, wer glaubt!"). Mit dieser Verkündigung verbleibt Jesus voll und ganz in der Glaubenswelt des damaligen Judentums.
"Matthäus" legt nun diesem Jesus, namentlich mittels der "Bergpredigt", ethische Maximen in den Mund, die sich auf die Verhältnisse in den judenchristlichen Gemeinden zur Zeit des "Matthäus" beziehen, besonders deren Naherwartung des Reiches Gottes. Diese Maximen "waren für die kurze Zeitspanne bis zum Beginn des Endgerichts gedacht und sollten dazu führen, dass diejenigen, die sie befolgten, also die christlichen Gemeindemitglieder, auch wirklich in Gottes Reich aufgenommen werden würden; sie waren nicht dazu gedacht, einer Weltreligion für einen Zeitraum von (bisher) 2000 Jahren als ethische Grundlage zu dienen."16
Damit deutet "Matthäus" Jesu Wirken, seine Intention um; er macht aus ihm einen Wanderprediger, "dessen Ziel es gewesen sei, diese (seine) 'neue' Endzeit-Ethik seinen Mitjuden zu verkünden, und der gemeinerweise von den missgünstigen und neidischen Hohenpriestern und Pharisäern durch seine Hinrichtung in Jerusalem - die sie betrieben hätten - gestoppt wurde (wer weiß, vielleicht hätte er sonst doch noch alle Juden auf seine Seite gebracht...)."17 Dass "Matthäus" damit den Juden die Schuld für den "Tod" (s. o.) Jesu in die Schuhe schob und so die christliche Judenfeindlichkeit begründete, hinderte und hindert die christlichen Kirchen bis heute nicht, diese Verfälschung des Evangelisten "Matthäus" zur Grundlage ihrer Sicht auf Jesus zu machen: "[...] der Zweck von Jesu Auftreten sei (auch) die Etablierung einer neuen ethischen Sichtweise gewesen, die die traditionelle jüdische Sichtweise in einer so spezifischen Weise modifiziert habe, dass er, der Jude Jesus, damit bewusst zum Begründer einer neuen Religion wurde, eben des Christentums."18 Diese Wanderpredigerthese bildet sozusagen den Mainstream nicht nur bei den christlichen Kirchen, sondern auch bei ihren Theologen.
Daneben ist unter einigen Theologen die Ansicht verbreitet, Jesus sei eine Art "Sponti" gewesen, ein früher Hippie, der predigend mit seiner bunten Schar heiter und unbedarft durchs Judenland tingelte. Aber dann hätten ihn die bösen Dogmatiker in Jerusalem kalt erwischt und diesem naiven, aber gefährlichen Sonnyboy den Garaus gemacht. Diese Sichtweise findet sich - um Beispiele zu nennen - bei Ben-Chorin, Schalom: Bruder Jesus. Der Nazarener in jüdischer Sicht. München: List, 1967 und bei Linder, Leo G.: Das Unternehmen Jesus - Wahrheit und Wirklichkeit des frühen Christentums. Hannover: Fackelträger, 2009.
Besonders unter US-amerikanischen Theologen ist die Ansicht beliebt, Jesus sei eigentlich Zelot gewesen, der die Römer aus dem Heiligen Land vertreiben wollte; das hätten die Römer gemerkt und ihm übelgenommen und ihm deswegen den Prozess gemacht und ihn gekreuzigt (also eigentlich seien gar nicht die Juden schuld an Jesu "Tod", sondern die bösen Römer). Diese Sichtweise findet sich beispielsweise bei Pagels, Elaine: The Origin of Satan, 1995, Crossan, J. D.: Who Killed Jesus?, 1995 und Aslan, Reza: Zealot, 2013.
Unter deutschen Theologen aber wird folgende Ansicht favorisiert: Da ja die Evangelien keine Biografien über Jesus sein wollten, könnten wir ihnen auch nichts Gesichertes über das Leben Jesu entnehmen. Aber andere Quellen über Jesus haben wir nicht, also kämen wir an den historischen Jesus nicht mehr heran. Er bleibe daher wohl für immer im Dunkel der Geschichte. Deshalb müssten wir uns an den christlichen Jesus Christus halten; weiteres Bemühen um den historischen Jesus sei so zwecklos und gebe jene, die trotzdem weiterforschten, der Lächerlichkeit preis. Diese Ansicht ist im Bereich der deutschen Theologie so beliebt und verbreitet, dass selbst kritische Autorinnen und Autoren wie Uta Ranke-Heinemann und Karlheinz Deschner19 diesen Standpunkt vertreten haben.
Diese Haltung gilt inzwischen als Modus Vivendi unter der Theologenzunft. Er soll zum einen diese "lästige Nachforscherei" von unverbesserlichen Querköpfen über das Leben Jesu endlich zum Erlöschen bringen und es zum anderen den linientreuen Theologen Deutschlands ermöglichen, auf dieser Grundlage ein warmes und sicheres theologisches Nest auszugestalten, in dem man sich dauerhaft und unangreifbar einhausen kann.
Störende Zwischenrufe entschärft man einfach durch Ignorieren, unpassende Forschungsbeiträge schweigt man einfach tot, besonders dann, wenn sie von "Fachfremden" kommen. "Jedes Buch, das ich veröffentliche, müsste ich eigentlich der katholischen Kirche vorlegen, hier in Essen demzufolge dem Generalvikariat. Dazu ist jeder publizierende Theologe verpflichtet. Aber da pfeif' ich doch inzwischen drauf. Was jedoch bedeutet, dass meine Bücher für die katholische Kirche eigentlich gar nicht existieren. Die gelten gleichsam als verbrannt."20
Kann man eine so wundervolle Frau wie Uta Ranke-Heinemann, die ihrerzeit die Kirche und ihre Theologen aufgescheucht hat, besser ehren als mit solch einem Artikel, der den Theologie-Professoren in ihrem warmen, kuschligen Elfenbeinturm hoffentlich doch wenigstens ein bisschen die Haare zerzaust?
Anmerkungen
1Kubitza, Heinz-Werner: Der Dogmenwahn. Scheinprobleme der Theologie. Holzwege einer angemaßten Wissenschaft. Marburg: Tectum, 2015, S. 22
2ebenda S. 23
3ebenda S. 41
4Aus: Schütt, Hans-Dieter: Uta Ranke-Heinemann. In der Reihe "Querköpfe". Berlin: Elefanten Press, 1993, S. 34
5Kubitza, Heinz-Werner: Der Dogmenwahn. Scheinprobleme der Theologie. Holzwege einer angemaßten Wissenschaft. Marburg: Tectum, 2015, S. 42
6Ranke-Heinemann, Uta: Nein und Amen. Anleitung zum Glaubenszweifel. Gütersloh: Bertelsmann Club GmbH, [1992], S. 122 f.
7"Die Ehrfurcht vor der Wahrheit [ist] über alles zu stellen." Albert Schweitzer in: Die psychiatrische Beurteilung Jesu. Darstellung und Kritik. Hildesheim, Zürich, New York: Olms, 2018, S. VI
8Ben-Chorin, Schalom: Bruder Jesus. Der Nazarener in jüdischer Sicht. München: List, 1967
9Lehmann, Johannes: Das Geheimnis des Rabbi Jesus: die Wahrheit von Qumran und was Urchristen und Kirche daraus machten. Wiesbaden: Fourier, 1996
10Martin, Wolfgang: Was Sie schon immer über Jesus wissen wollten. 2. Aufl. Berlin: Selbstverlag, 2018
11Stegemann, Hartmut: Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus. Freiburg: Herder, 1993
12s. Daniel-Rops, Henri: Die Umwelt Jesu. Der Alltag in Palästina vor 2000 Jahren. München: dtv, 1980, S. 317
13s. Anm. 10, S. 61/2
14Martin, Wolfgang: Synopse der Gleichnisse, Parabeln, Allegorien und Beispielerzählungen in den Evangelien des Neuen Testaments und ihre Deutung. Berlin: Selbstverlag, 2021, S. 4
15s. Anm. 10, S. 154
16ebenda, S. 78
17ebenda, S. 77
18ebenda, S. 74
19s. beispielsweise Deschner, Karlheinz: Der gefälschte Glaube. Eine kritische Betrachtung kirchlicher Lehren und ihrer historischen Hintergründe. München: Knesebeck & Schuler, 1988
20s. Anm. 4, S. 27
Copyright: Wolfgang Martin
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